Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Gnädige Frau? Gnädige Frau? Ihre Stimme wird lauter. Gräfin Mitlowskaja, bitte, machen Sie die Tür auf.
Antonina hört das trappelnde Geräusch hektischer Schritte, dann ist es still. Kurz darauf wieder eilige Schritte, dann das Hantieren mit einem Schlüsselbund und ein Schaben, als sich der Schlüssel im Schloss dreht.
» Tosja « , stößt Lilja atemlos aus, während sie die Tür hinter sich schließt. Erschrocken starrt sie auf Antoninas Mund und die rötliche Lache auf dem Teppich. Sie stöhnt und bekreuzigt sich.
Sie befeuchtet ein Handtuch und kniet sich vor Antonina, reibt ihr sanft das Kinn ab, aber die rote Verfärbung ist hartnäckig. Liljas Nasenflügel blähen sich. » Ist es nur Wein? « , sagt sie und schnuppert. Dann macht sie auch vor Antoninas Gesicht das Kreuzzeichen. » Gott sei Dank. Ich dachte, es wäre Blut. «
» Ich weiß nicht mehr ein noch aus, Lilja « , sagt Antonina matt. » Ich halte es nicht mehr aus. Diesen Schmerz. «
» Warte, das kriegen wir schon « , sagt Lilja. Sie umfasst Antonina unter den Achseln und hilft ihr aufzustehen.
Antonina lehnt den Kopf schwer gegen Liljas Schulter. Diese streichelt ihr den Rücken, der ganz feucht ist. » Du bist krank, Liebes « , sagt sie. » Du musst schlafen. « Sie küsst Antonina aufs Haar. » Komm, ich bringe dich ins Bett. Sollen wir dein Kleid ausziehen? «
Antonina schüttelt den Kopf.
Lilja hilft ihr, sich ins Bett zu legen, und deckt sie behutsam zu.
» Ich brauche Wasser « , sagt Antonina leise und schiebt die Decke wieder weg. Lilja huscht zum Wasserkrug und füllt ein Glas, kommt damit zurück. Sie hält es Antonina an die Lippen. Als diese es geleert hat, stellt Lilja das Glas auf den Nachttisch und setzt sich auf die Bettkante. Mit dem Daumen fährt sie sanft über den roten Fleck auf Antoninas Lippen. Immer wieder reibt sie darüber, bis Antonina matt Liljas Hand wegschiebt.
Lilja sagt: » Du musst beten, Ninotschka. Beten musst du. Ich tue es auch, den ganzen Tag lang. Ich höre nicht auf zu beten, dass Gott unser Kind zu uns zurückkehren lässt. «
Antonina blinzelt. » Du meinst, mein Kind. «
» Ja, natürlich, Tosja. Aber ich vermisse ihn doch auch. Jeden Tag sehne ich mich danach, ihn in meine Arme zu schließen. Seine Stimme und sein Klavierspiel wiederzuhören. «
Dass sie diese Sehnsucht mit ihr teilt, tröstet Antonina ein wenig. » Glaubst du, dass Michail noch lebt? Dass Gott ihn all diese Zeit über bewacht und beschützt hat? Dass ich ihn eines Tages wiedersehen werde? « Ihre Zunge fühlt sich noch immer merkwürdig taub an, jedes Wort bereitet ihr Mühe.
Sie erwartet, nein, will, dass Lilja sagt: Ja, ja, natürlich wird Gott dafür sorgen, dass er wohlbehalten zu uns zurückkehrt. Wenn noch irgendjemand das glaubt, dann Lilja. Seit sie ihre neue Position im Gutshaus antrat, ist sie von Jahr zu Jahr religiöser geworden. Während der fünf Wochen des Apostelfastens im Mai und Juni, das vor dem Peter- und Paulstag endet, verzichtet sie auf Fleisch, Milch und Eier. Auch in der Zeit vor Mariä Himmelfahrt im August fastet sie zwei Wochen lang, ebenso wie sechs Wochen vor Heiligabend und natürlich während der siebenwöchigen großen Fastenzeit vor dem Fest der Auferstehung Christi. Abgesehen von diesen Fastenzeiten lebt sie jeden Mittwoch, dem Tag von Judas’ Verrat, enthaltsam, ebenso jeden Freitag, dem Todestag des Erlösers. Wenn Antonina nach Pskow fährt, bittet Lilja, mitfahren zu dürfen, um die zahlreichen kleinen pittoresken Kirchen zu besuchen, die aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert stammen, oder eines der Klöster, die im zwölften Jahrhundert gegründet wurden. Stundenlang kniet Lilja in der Dreifaltigkeitskathedrale. Wenn Antonina sie abholen kommt, merkt sie, wie schwer es Lilja fällt, diesen Ort wieder zu verlassen. Nach einem Tag des Gebets in der Kathedrale oder einer anderen Kirche der Stadt liegt ein verzückter Ausdruck auf Liljas Gesicht. Dann erinnert sich Antonina wieder an den Kindheitstraum ihrer Freundin, eines Tages Nonne zu werden.
Doch statt Antoninas Frage mit einem klaren Ja zu beantworten, errötet Lilja und schluckt schwer, bevor sie sagt: » Das müssen wir glauben, Tosja. Wir dürfen nie aufhören zu glauben, dass das Richtige geschieht. «
Trotz des Pochens in ihrem Kopf wundert sich Antonina über diese seltsamen Worte, die Lilja so gar nicht ähnlich sehen. Das Richtige geschieht.
» Meine arme Ninotschka « , sagt Lilja, » mein armes
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