Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
sicherzugehen, brauche ich zwei Männer, die ihn festhalten, sollte er doch etwas spüren. «
Er entkorkt eine hohe, dünne Glasflasche. Antonina nimmt einen leicht süßlichen Geruch wahr. Plötzlich fällt ihr Blick auf einen Kübel mit Sägespänen auf dem Boden neben dem Bett. Wozu die Sägespäne?, denkt sie. Für den amputierten Arm vielleicht? Er wird unmittelbar unterhalb des Ellbogens abgeschnitten, hat der Arzt ihr erklärt. Antonina hat einen trockenen Geschmack im Mund – als hätte sie von den Sägespänen gegessen.
Der Arzt sagt: » Pawel, stellen Sie sich auf diese Seite, und Sie – Grischa, war der Name nicht wahr? – auf die andere. «
Grischa sieht Antonina an. » Sie sollten nicht hierbleiben, Gräfin. «
» Ihr braucht ihn noch nicht zu halten « , sagt der Arzt zu den Männern, die sich auf ihren jeweiligen Platz begeben haben. » Haltet euch einfach bereit. « Er hebt Konstantins Kopf und hält ihm die Flasche unter die Nase. Konstantin dreht ruckartig das Gesicht weg. Einen Augenblick später scheint es, als würde das Anästhetikum ihn unruhig machen, statt zu betäuben. Er blickt irr um sich, murmelt Worte, die keinen Sinn machen. Aber im nächsten Moment erschlafft er und scheint das Bewusstsein zu verlieren.
» Gut « , sagte Dr. Molow, während er seine Ärmel hochkrempelt. Er entfernt den Verband von Konstantins Hand, und wieder bedeckt sich Antonina mit der Hand Mund und Nase. Ein schier unerträglicher Gestank geht von der fast schwarzen, verfaulenden Hand aus; die Finger sind aufgedunsen, und die ebenholzfarbenen Nägel haben sich tief in das verquollene Fleisch eingegraben.
» Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen, Gräfin « , sagt Grischa abermals, und sie sieht ihn dankbar an und verlässt den Raum.
Doch selbst in ihrem Zimmer hört sie Konstantins Schreie. Sie hält sich die Ohren zu und geht nervös auf und ab. Irgendwann wird es still. Sie stellt sich ans Fenster, sieht hinaus. Es klopft an ihre Tür. Als sie öffnet, steht Grischa davor. Er sagt zu ihr: » Sie können jetzt zu ihm. «
Sie geht wieder in Konstantins Zimmer. Seine Augen sind geschlossen, aber er dreht den Kopf hin und her, wie in einem Albtraum gefangen. Man hat ihm das Bettzeug bis zum Kinn hochgezogen. Pawel und der Arzt sitzen auf je einer Seite des Bettes. Nichts weist auf das Trauma hin, das sich hier vor Kurzem ereignet hat. Das Fenster ist geöffnet, und eine kühle, frische Brise weht herein.
Sie sieht auf Konstantins Gesicht hinab, das wächsern und schweißbedeckt ist. Sie nickt dem Arzt zu und kehrt dann in ihr Zimmer zurück.
Einen Tag nach der Amputation sagt der Arzt zu Antonina, ihr Mann habe freiwillig ein wenig Nahrung zu sich genommen und ihren Namen genannt. Er erzählt ihr nicht, dass Graf Mitlowski während seines Deliriums des Öfteren den Namen Tanja gerufen hat. Zwei Tage nach der Amputation sagt er: » Das Fieber ist verschwunden, und der genähte Stumpf sieht so aus, wie man es in diesem Stadium erwarten kann. Abgesehen von regelmäßigen Visiten, um den Heilungsprozess zu überwachen, kann ich nichts mehr tun. Die Heilung sollte jetzt ohne weitere Komplikationen verlaufen, doch dem Grafen steht noch eine schwierige Zeit bevor: Er wird lernen müssen, seine linke Hand zu gebrauchen. «
Antonina fällt es schwer, Konstantin zu besuchen. Wenn sie sein Zimmer betritt und sich neben sein Bett setzt, schließt er die Augen oder starrt zum Fenster. Wenn sie ihn fragt, ob er Schmerzen hat oder sie etwas für ihn tun kann, antwortet er nicht. Irgendwann hört sie auf, ihn zu besuchen; stattdessen erkundigt sie sich bei Pawel, wie es dem Grafen geht. Seine Antwort ist stets die gleiche: Den Umständen entsprechend, gnädige Frau. Er sagt, dass die Mischung aus Chloroformtinktur und Opium, die der Doktor dagelassen hat, ihren Mann vor den schlimmsten Schmerzen bewahrt.
Einen Monat nach der Entführung kommt Grischa zu Antonina in den Musiksalon. Sie sitzt auf dem Stuhl neben dem Klavier, die Hände schlaff im Schoß. Er sagt, er würde, falls sie einverstanden ist, die tägliche Suche gern einstellen. Sie haben sämtliche Leibeigenen in einem Radius von mehr als zweihundert Werst befragt, fügt er hinzu, aber sein Gesicht verschwimmt vor Antoninas Augen, seine Stimme hört sich an, als käme sie von weither. Man hat die Behörden in Pskow über die Entführung unterrichtet, und diese wiederum haben sie der zuständigen Stelle in Sankt Petersburg angezeigt. Doch bislang hat sich
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