Das Lied der Klagefrau

ihr weg.«
    »Jawohl, Mutter Vonnegut, so machen wir’s.«
    »Leb wohl, meine liebe Alena, und pass auf dich und die Deinen auf, der Familiensegen hängt immer von der Frau ab, merk dir das. Männer verstehen von solchen Dingen nichts. Die Männer machen ein Lager, und die Frauen machen ein Heim. Das ist der Unterschied. So war’s schon immer. Ich würd euch gern ein paar Kronberger Kastanien mitgeben, die sind als Wegzehrung
grandiose,
aber ich hab keine.«
    Die Witwe küsste Alena herzhaft auf beide Wangen und machte auch vor Abraham nicht halt. Ihn allerdings küsste sie nur auf die Stirn, nachdem sie ihn energisch zu sich herabgezogen hatte. Dann begann sie wieder zu schluchzen, presste das Bäumchen an sich und ging geradewegs in ihre Kammer zurück.
    »Das wär geschafft«, sagte Abraham leise. »Bist du bereit?«
    »Ja, Abraham. Die Abreise hat mir bevorgestanden, aber jetzt, wo es so weit ist, muss es auch losgehen.«
    »Dann komm.« Er half ihr in den neuen Reisemantel und führte sie nach draußen, wo der Braune mit dem Gepäck und den Puppen auf sie wartete. Die Güldenstraße lag vor ihnen, und in die aufkommende Wehmut hinein erklang die Stimme des Schiffers:
    »Die See ruft«, sagte er.
    »Und die Ferne lockt«, sagte der Söldner.
    »Aber Göttingen werden wir nie vergessen«, sagte die Magd.
    »Absurdité!«,
krähte der Alte Fritz. »Göttingen ist nicht Sanssouci, ich will sofort nach Sanssouci!«
    Alena schmiegte sich an Abraham. »Den Puppen scheint es gutzugehen. Und dir auch. Aber was ist mit unserem kleinen Julius?«
    Abraham lachte. »Der ist warm eingepackt und schläft in ihrer Mitte. Sie passen auf ihn auf.«
    »So ist es«, bestätigte die Magd. »Mach dir keine Sorgen, Alena. Er ist ein kräftiger, gesunder Junge, er giggelt und sabbert und freut sich auf die Reise, aber im Augenblick schläft er tief und fest.«
    Alena küsste Abraham. »Dann bin ich beruhigt.«
    »Das kannst du auch sein, Liebste.« Er schnalzte mit der Zunge, und der Braune zog an.
    Langsam rollte der Karren die Straßen entlang Richtung Norden. Beim Kornmarkt ließen sie das Rathaus links hinter sich und gingen auf der Wehnder Straße weiter. Abraham vorn, wo er das Pferd am Zügel führte, Alena hinter dem Wagen, wo sie ein wachsames Auge auf den kleinen Julius hatte. Alles war so vertraut und doch schon ein wenig fremd. Zur Rechten passierten sie die Jacobi-Kirche, dann die Reformierte Kirche, dann das Anatomische Theater, wo Professor Wilsberg sein Zepter schwang, und den Botanischen Garten. Sie schritten grüßend durch das Wehnder Tor, und Alena dachte: Es ist alles genau so wie vor vier Jahren, nur läuft es diesmal umgekehrt, wir kommen nicht, wir gehen – und Abraham ist ein Doktor der Medizin geworden, und ich bin ungeheuer stolz auf ihn.
    Kurz nachdem sie die Stadt verlassen hatten und Felder und Wälder sich weit vor ihnen auftaten, wachte Klein Julius auf und fing fröhlich an zu krähen. Er lachte und streckte die Ärmchen in die Höhe, als wolle er die gesamte Winterlandschaft umarmen.
    Abraham brachte das Pferd zum Stehen und sagte glücklich: »Ich glaube, er wird es einmal leichter haben.«
    Alenas Augen lächelten. »Ja«, sagte sie. »Das wird er.«

Nachspann

Kleines Glossar
zeitgenössischer Ausdrücke
und Begriffe
    Absurdité
Unsinn, Ungereimtes
accelleriren
beschleunigen
accordiren
übereinstimmen, entgegenkommen
Ackerleinen
Bindfäden (regnen)
adieu
Gott befohlen
Adlatus
Gehilfe
alter Bursch
Student im vierten Semster
Applausum
hier: Zuhörer, Publikum
Autodafé
Verbrennung durch die Inquisition
bemoostes Haupt
Student im fünften Semester
bon bon
gut, sehr gut
Bonmot
witzig-treffender Ausspruch
Bouquet
Blumenstrauß; Duft des Weines
Bouteille
Flasche
Bursche
allgemein für Student
by the way
nebenbei, übrigens
cerebrum
Gehirn
Chaise
Kutsche
chauffiren
einen Wagen lenken
Chemisette
hier: Einsatz an Damenkleidern
Chignon
Dutt
Coiffeuse
Friseurin
Collegium
hier: Vorlesung(sfolge)
Comment
Gesamtheit der studentischen Regeln
Commissionair
Beauftragter, Bevollmächigter
communitziren
mitteilen
Compliment
Gruß
condemniren
verurteilen, verdammen
confisciren
beschlagnahmen, einziehen
Consommé
klare Suppe oder Fleischbrühe
Contenance
Haltung
continuiren
fortsetzen
convenabel
passend, geziemend, gefällig
conveniren
gefallen, passen
corrosivisch
angreifend, zersetzend, ätzend
Deputation
Abordnung, Vereinigung
derangirt
zerzaust, aufgelöst, unordentlich
difficil
schwierig,