Das Lied der Klagefrau
Gönner der Georgia Augusta sein. Als ob mir das irgendwie nützlich sein könnte.«
»Ein Gönner? Wer ist es denn?«
»Ich weiß es nicht.«
»Schau doch auf das Siegel.«
Gemeinsam betrachteten sie den roten runden Wachsabdruck, auf dem lediglich eine stilisierte Weltkugel erkennbar war sowie der Spruch
Comportare gaudium est.
»Sammeln ist Freude«, murmelte Alena. »Wer wohl einen solchen Leitspruch für sich gewählt hat?«
»Wir werden es gleich wissen.« Abraham erbrach das Siegel und faltete das schwere Papier auseinander. Gemeinsam lasen sie den handschriftlich verfassten Text.
Wertgeschätzter Herr Doktor
in spe
Julius Abraham,
hiermit erreicht Euch ein Brief, der wahrscheinlich nie geschrieben worden wäre, wenn der hochvorzügliche Professor Runde nicht meine Gemahlin und mich über den Hergang der Geschehnisse in der Schreckensnacht vom 4. auf den 5. Maius unterrichtet hätte.
Dass unsere Henrietta von uns gegangen ist, ist ein nicht zu beschreibender Verlust, den meine Gemahlin und ich nach Gottes Willen zu ertragen haben, und es soll Euch ehrlich
communitziret
sein, dass ich mich zunächst mit dem Gedanken trug, Euch zu vernichten, denn Ihr wart es, für den sie sich geopfert hat.
Warum musste sie sterben, wenn Ihr doch lebt!
Doch Gott der Herr hat mir in vielen Gebeten die Einsicht geschenkt, dass es ungerecht wäre, Euch für den Tod unserer geliebten Tochter verantwortlich zu machen. Ihr habt Euch im Gegenteil in guter
Contenance
um sie gekümmert und stets Eure Freundeshand als Kommilitone über sie gehalten, wie sie mir mit ihren eigenen Worten versicherte, als ich mich wenige Tage vor ihrem tragischen Tod mit ihr traf.
Ich bin sicher, Ihr werdet das Gedenken an unsere geliebte Henrietta stets hochhalten, mit
convenabler
Diskretion! Dies vorausgesetzt, möchte ich mich erkenntlich zeigen, denn ich bin sicher, es ist im Sinne unserer Tochter, Euch zu helfen, da sie selbst dazu nicht mehr in der Lage ist.
Als Zeichen meiner Wertschätzung pp. ist diesen Zeilen ein Empfehlungsschreiben beigelegt. Es richtet sich an den Freiherrn Caspar Melchior von und zu Bonnebeck. Das gleichgenannte Dorf an der Aller in der Nähe von Celle zählt etwa sechshundertfünfzig Seelen, brave Bauern, Händler und Handwerker, aber auch ein Gutteil Alte und Sieche, denen allen es an einem tüchtigen Arzt und Chirurgus mangelt.
So es Euch genehm ist, könnt Ihr Euch bei Bonnebeck mit dem genannten Schreiben vorstellen. Ich bin sicher, der Freiherr wird dafür sorgen, dass Ihr die Approbation erhaltet. Die Besoldung dürfte hinlänglich sein, eine Familie zu ernähren, auch wenn ein Teil womöglich
menagirt
werden wird.
Ein
Compliment
an Eure verehrte Gattin.
Lebt wohl und vergesst unsere Henrietta nicht.
Georg Heinrich von Zarenthin, Baron usw.
Als sie zu Ende gelesen hatten, schwiegen beide für lange Zeit. Dann sagte Abraham: »Wir würden sehr viel aufgeben, wenn wir nach Bonnebeck gingen.«
»Aber wir würden auch sehr viel gewinnen«, entgegnete Alena.
Er nahm ihre Hand. »Willst du wirklich wieder die Landstraße unter die Füße nehmen? Wieder von morgens bis abends marschieren, bei Hitze und Kälte, bei Wind und Wetter? Nach Celle sind es mindestens hundert Meilen.«
»Und mit jeder Meile würden wir der Freiheit ein Stück näher kommen.«
»Du meinst also, wir sollten wirklich …?«
Alenas Augen leuchteten. »Ja«, sagte sie fest. »Wir gehen.«
[home]
Epilog
A n einem kalten Januartag anno 1790, morgens gegen zehn, nahm Alena die Schürze ab. Sie hatte soeben die letzten Teller und Tassen in der Küche gespült. Nicht nur für diesen Tag, sondern für immer, denn heute wollten sie und Abraham Göttingen verlassen. Ursprünglich hatten sie schon im Oktober des vergangenen Jahres gehen wollen, doch wie so häufig im Leben war manches dazwischengekommen. Zum einen hatte Doktor Stromeyer noch immer am Krankenbett seiner zählebigen Mutter gesessen, so dass Abraham im Hospiz unabkömmlich war; zum anderen hatte Professor Lichtenberg einen neuen Elektrophor entwickelt und darauf bestanden, dass Abraham bei den ersten Versuchen zugegen war; und zum Dritten hatte die Witwe lamentiert, sie könne ohne die Hilfe Alenas nicht auskommen, die Venen seien ihr in den letzten Monaten dick wie Schiffstaue und auch sonst gehe es ihr nicht gut.
Das alles jedoch hätte wenig gegolten, wenn nicht der neue Prorektor, der Professor für Medizin Johann Andreas Murray, so großzügig gewesen
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