Das Lied der Klagefrau
tausend, denn ich mach’s kurz: Ihro Durchlaucht, den Freiherrn von Bonnebeck, den hab ich schon mal in Hannover gesehen, als ich eine entfernte Verwandte besuchte. Gut gewachsen ist er, da beißt die Maus keinen Faden ab, und er hat einen sehr gütigen Blick im Auge. Er kam hoch zu Ross in einem grauen Überrock daher, batistene Manschetten, die Haare in einem Zopf, wahrhaftig jeder Zoll von Adel. Wenn sie nur alle so wären, die hohen und höchsten Herrschaften!«
»Da habt Ihr sicher recht, Mutter Vonnegut.« Abraham versuchte, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Er liebte keine langen Abschiede.
»Natürlich habe ich recht. Begegnet dem Freiherrn beim ersten Mal nur schön ehrerbietig. Eine tiefe Verbeugung, gern auch
repetirt,
von dir, Julius, auch wenn du jetzt ein ausgewachsener, promovierter Doktor bist, und ein Hofknicks von dir, Alena, recht tief und elegant, da werdet ihr gewiss nichts falsch machen, und die Miene des gnädigen Herrn wird sich gleich glätten. Und überlegt Euch, was ihr sagt. Na, ich weiß ja, ihr seid beide nicht auf den Mund gefallen. Es wird alles in der Reihe sein, wenn’s so weit ist, und wenn nicht, wird’s das Myrtenbäumchen mir sagen. Es wird dann wohl die Blätter hängen lassen, vermut ich, aber so weit dürft ihr es nicht kommen lassen, hört ihr?«
»Jawohl, Mutter Vonnegut.« Alena und Abraham sagten es fast mechanisch.
»Versprecht ihr mir’s hoch und heilig?«
»Wir versprechen es.«
»Dann ist es gut, und die Nägel stecken fest. Wie man sich erzählt, hat es der Freiherr nicht allzu sehr mit der
Etikette,
aber man kann ja nie wissen. Manch einer tut so fein, als wenn der vornehmste Hof seine Säugamme gewesen wär, und wenn man dahinterblickt, sieht man nicht mehr als einen armseligen Kohlenkasten. Ach Gott, Kinder, ich rede und rede, verzeiht einer alten Frau, die nun wieder in die Einsamkeit gestoßen wird, denn die
Burschen
kommen und gehen, aber ihr, ihr wart was ganz Besonderes.«
»So etwas sollt Ihr nicht sagen, Mutter Vonnegut.«
»Doch, doch, was wahr ist, ist wahr. So, jetzt wisst ihr meine Gedanken – punktum und Streusand drauf.«
Die Witwe schniefte und schluckte und brachte es fertig, nicht wieder in Schluchzen auszubrechen. Auch Alena hatte aufgehört zu weinen und dachte, dass sie nicht viele solcher Abschiede aushalten könnte. Am Vortag hatte sie Abraham nach seinem letzten Arbeitstag im Hospiz abgeholt und dabei Professor Richter angetroffen. Die Trennung von ihm war kürzer, aber nicht weniger schmerzlich ausgefallen, nachdem er Doktor Stromeyer wieder die Leitung des kleinen Hospitals übertragen hatte. Der stets unter Zeitdruck stehende Mann hatte sein markantes Lächeln aufgesetzt und Alena galant die Hand geküsst. »Wie ich höre, verlasst Ihr uns morgen«, hatte er gesagt. »Göttingen wird ärmer sein ohne Euch.« Danach hatte er sich an Abraham gewandt und ihm mit einem kräftigen Händedruck alles Gute und viel Erfolg gewünscht. »Ich weiß, dass Ihr der Georgia Augusta und mir keine Schande bereiten werdet. Ihr seid zu einem respektablen Arzt herangewachsen. Bonnebeck und seine Bewohner dürfen sich glücklich schätzen.«
Und Hasselbrinck, der in strammer Haltung daneben gestanden hatte, war feucht um die Augen geworden, bevor er ein etwas pathetisches »
Adieu
und Gottes reichen Segen über Euch, Herr und Frau Doktor!« hervorbrachte. »Auch im Namen von der Frau und der alten Grünwald.«
Professor Lichtenbergs Verabschiedung dagegen hatte in einem kurzen Brief bestanden, der am selben Abend in der Güldenstraße abgegeben wurde. Er war knapp gehalten, doch enthielt er wie häufig ein kleines
Bonmot:
Es tun mir viele Sachen weh,
die anderen nur leidtun,
mein lieber Abraham.
Dass Ihr mit Eurer lieben Frau die Stadt
verlassen wollt, schmerzt mich
jedoch überraschend stark.
Gott (so es ihn gibt) befohlen.
Euer L.
N. S. Apropos Schmerzen:
Euer einstiger Patient will sich bessern
und künftig weniger Medizin einnehmen.
»Ich hasse Abschiede, Kinder«, sagte die Witwe in Alenas Gedanken hinein. »Ein guter Abschied ist kurz und besteht in der Hoffnung, dass man sich noch in diesem Leben wiedersieht. Nicht wahr, ihr werdet mich doch in Bälde mal besuchen kommen?«
»Natürlich, Mutter Vonnegut.«
»Dann ist es recht. Ich sag euch, wie wir es machen: Ich geh jetzt in meine Kammer und gebe dem Bäumchen Wasser in den Topf, und ihr verlasst derweil mein Haus. Und wenn ich wieder in die Küche komm, seid
Weitere Kostenlose Bücher