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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Abraham war noch immer wie vom Donner gerührt.
    »Es gibt in diesem Fall kein Aber.« Rundes Ton ließ keinen Widerspruch zu. »Entweder Ihr erlangt Euren Doktorgrad und verlasst nach dem Ende dieses Semesters, also im Oktober, die Stadt, oder Ihr habt dreieinhalb lange Jahre umsonst studiert. Wollt Ihr das?«
    »Nein, selbstverständlich nicht.« Abraham schluckte. »Es kommt alles nur so plötzlich.«
    Runde stand auf, streckte Abraham die Hand entgegen und lächelte zum ersten Mal. »Das Leben steckt voller Überraschungen, mein Lieber. Ich nehme an, Ihr entscheidet Euch für den Titel, Herr … Doktor
in spe?
«
    »Ja«, sagte Abraham und ergriff die dargebotene Rechte.
    »Das freut mich. In diesem Fall habe ich Euch einen Brief zu übergeben.« Runde setzte sich wieder, und Abraham, der sich ebenfalls erhoben hatte, folgte seinem Beispiel. »Einen Brief?«
    »Ganz recht. Ihr werdet Euch sicher fragen, von wem er ist, doch Ihr werdet den Namen des Absenders nicht von mir erfahren, denn er hat mich ausdrücklich darum gebeten. Allerdings darf ich sagen, dass der Verfasser mir wohlbekannt ist. Es handelt sich um einen Gönner unserer Universität, der ein Interesse an Eurer Zukunft hat.«
    »Gönner? Wer sollte das sein?«
    Runde schürzte die Lippen. »Wie gesagt, diese Frage beantworte ich Euch nicht. Nur so viel: Es ist ein Jemand, dem unsere Universität manchmal dazu verhelfen kann, seine Sammlung an Kuriosa und exotischen Exponaten zu bereichern – wie zuletzt geschehen durch die Überlassung des einzigen bekannten Exemplars des berühmten Fischvogelsäugers, auch Schnabeltier genannt. Doch zurück zu dem Brief: Der Inhalt wird Euch vielleicht ein wenig aufheitern. Hier, nehmt.«
    Abraham nahm das Schreiben entgegen, betrachtete flüchtig das prächtige rote Siegel und blickte dann wieder auf, denn Runde sprach schon weiter.
    »Wenn ich eingangs sagte, dass ohnehin schon zu viele um die Geschehnisse in jener unglückseligen Nacht wissen, dann meinte ich damit, dass höchste Diskretion geboten ist. Gleiches gilt auch für diesen Brief. Verwahrt ihn gut, zeigt ihn nicht herum und lest ihn in einer stillen Stunde. Und dann entscheidet Euch.«
    »Äh, jawohl.«
    Runde stand abermals auf. Diesmal war die Unterredung tatsächlich beendet, denn der Prorektor deutete eine knappe Verbeugung an. »Nun ja, das war es wohl. Gestattet mir abschließend eine private Bemerkung: Ihr sollt wissen, dass der Prorektor dieser Universität es ausdrücklich begrüßt, wenn Ihr – trotz aller Schwierigkeiten – ein Doktor der Medizin werdet. Ihr habt es wahrlich verdient.« Er streckte die Hand aus, und Abraham schlug freudig ein.
    »Alles Gute für Euch, Abraham.«
    »Danke, Exzellenz, danke vielmals für alles.« Abraham war wie benebelt und stapfte, den Brief in der Hand, aus dem Allerheiligsten hinaus.
     
     
    Den Kopf voller Gedanken, kehrte er ins Hospiz zurück und hatte in den nächsten Stunden so viel zu tun, dass er den Brief zeitweilig völlig vergaß.
    Am Abend nach diesem ereignisreichen Tag saßen er und Alena in ihrem Logis bei der Witwe Vonnegut. Sie hielten sich bei den Händen, waren unendlich froh, einander wiederzuhaben und schwiegen in ihrem Glück. Doch irgendwann begann Abraham zu sprechen, und er sagte ohne Umschweife: »Der Prorektor hat mir heute gesagt, ich würde promoviert werden, dürfte mich aber nicht in Göttingen als Arzt niederlassen.«
    Alena erschrak. »Und wenn du es doch tätest?«
    »Würde ich den Doktorgrad nicht bekommen.«
    »Das ist Erpressung!«
    Abraham seufzte. »Sagen wir lieber, es ist die notwendige Verflechtung zweier Dinge.«
    »Unsinn.« Alenas Augen sprühten Feuer. »Es ist eine Verbannung! Du bist an alledem nicht schuld und sollst trotzdem dafür büßen. Ich kann nicht gerade sagen, dass ich vernarrt in Göttingen bin, aber die Stadt ist mir ans Herz gewachsen. Ich kenne viele Menschen, die ich mag, und mindestens genauso viele, die gern zu dir als Patient kämen.«
    »Aber es hilft nichts. Die Dinge liegen nun einmal so.«
    »Wir wollen nicht streiten.« Alena lenkte ein und küsste Abraham. »Es hat keinen Sinn. Dann gehen wir eben woandershin. Es wäre ja nicht das erste Mal.« Sie küsste ihn abermals.
    »Du bist wunderbar.«
    »Ich bin deine Frau.« Sie kuschelte sich an ihn. »Was steht eigentlich in dem Brief, den der Prorektor dir gegeben hat?«
    »Der Brief? Ach ja. Den hatte ich ganz vergessen.« Abraham stand auf und holte ihn. »Er soll von einem

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