Das Lied der Luege
House kostete bestimmt ein hübsches Sümmchen. Es war Zenobias Vorschlag gewesen, Mr. Eathorne eine Einladung zum Weihnachtsdinner auf Sumerhays zu schicken, obgleich er keinen Titel trug. Ihre Neugierde auf den Mann ließ sie diesen Mangel jedoch vergessen. Allerdings hatte Zenobia nicht geglaubt, er würde wirklich kommen, da er bisher alle Einladungen ausgeschlagen hatte.
»Nun, ich habe noch eine Menge zu erledigen.« Lavinia stand auf. »Edward … Mutter … wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet?«
Zenobia wartete, bis sich die Tür hinter Lavinia geschlossen hatte, dann sagte sie zu ihrem Sohn: »Ich bin sicher, Lavinia geht gleich in die Kinderzimmer. Ich finde, sie verwöhnt Anabell zu sehr.«
»Ach, Mutter, lass sie doch. Wir wissen, wie sehr sich Lavinia ein Kind gewünscht hat. Anabell ist noch klein, ich werde schon dafür sorgen, dass sie nicht zu sehr verzärtelt wird.«
»Diesbezüglich habe ich keine Bedenken.« Zenobia seufzte und trank den letzten Schluck Tee aus ihrer Tasse. »Du bist allerdings viel zu selten auf Sumerhays.«
»Mutter, du weißt, meine Arbeit in London …«
Zenobia winkte ab und seufzte ein weiteres Mal.
»Es ist bedauerlich, dass Anabell kein Junge ist. Verstehe mich nicht falsch, Edward, ich liebe meine Enkeltochter von ganzem Herzen, dennoch denke ich, sie wäre am besten nie geboren worden. Denn dann …«
Zenobia beendete den Satz nicht, aber Edward verstand. Er war über ihre harten Worte nicht schockiert, entsprachen sie ja nur seinen eigenen Gedanken. Damals, bevor Lavinia schwanger geworden war, hatte er sich ernsthaft mit einer Trennung beschäftigt. Er wäre noch jung genug gewesen, um sich eine andere Frau zu suchen, die ihm den ersehnten Sohn hätte schenken können. Doch jetzt, da es Anabell gab, war an eine Trennung nicht zu denken, niemand hätte Verständnis, wenn er Frau und Tochter verließ. Wie es aussah, würde Lavinia ihm kein weiteres Kind schenken. Zugegeben – Anabell war ein ganz entzückendes Mädchen, aber eben nur ein Mädchen. Nun, er würde dafür sorgen, dass sie eines Tages einen vermögenden Mann aus guter Familie heiratete, der Besitz der Tredarys würde jedoch niemals in fremde Hände geraten.
»Ich reite aus«, sagte Edward. »Ich möchte euch Frauen bei den Vorbereitungen für das Dinner nicht im Weg stehen.«
Zenobia lächelte wohlwollend.
»Ich hoffe, Lavinia weiß, was sie an dir hat, mein lieber Edward. Manchmal denke ich, sie weiß es nicht richtig zu schätzen, denn oft ist sie schon etwas … aufsässig.«
Edward nickte. Seit Anabells Geburt hatte sich Lavinia verändert. Früher war sie all seinen Wünschen bedingungslos nachgekommen, jetzt jedoch äußerte sie eigene Meinungen und Vorstellungen, besonders wenn diese ihre Tochter betrafen. Nun, sie würden bis Anfang Januar in Sumerhays bleiben, danach wollte Edward darauf bestehen, dass Lavinia ihn nach London begleitete, ohne Anabell natürlich. Das Kind war bei seiner Großmutter und seinen Kindermädchen gut aufgehoben. Er jedoch musste in der Stadt ständig repräsentieren, dabei war es notwendig, dass seine Frau an seiner Seite war. Edward wusste, dass Lavinia weder ihr Kind allein lassen noch das Frühjahr in London verbringen wollte, sie hatte sich jedoch für den Luxus und die Stellung in der Gesellschaft, die Edward ihr bieten konnte, entschieden, somit blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu fügen.
Das Dinner verlief zu Lavinias und Zenobias vollster Zufriedenheit. Als Vorspeise gab es frischen Lachs im Senfmantel, die gefüllten Truthähne schmeckten köstlich, und den obligatorischen Plumpudding spülten die Gäste mit Mengen von süßem Portwein hinunter. Ein wenig befangen war Lavinia Stephen Polkinghorn und seiner jungen Frau gegenübergetreten, aber Veronica machte es ihr leicht, sie auf Anhieb zu mögen. Sie war nicht hübsch im landläufigen Sinn, dazu war ihr Gesicht zu lang und zu schmal, die Nase zu spitz und ihre Lippen nicht voll genug. Wenn Veronica jedoch lächelte, strahlten ihre blaugrauen Augen, und sie verfügte über eine natürliche Anmut und Eleganz und verstand sich darauf, charmant und unterhaltsam zu plaudern. Stephen Polkinghorn wurde von allen Gästen zurückhaltend begrüßt und während des Essens verstohlen gemustert. Er selbst hielt sich bei den Gesprächen zurück, warf nur hier und da höfliche Floskeln wie »Wie interessant! Davon müssen Sie mir mehr erzählen« oder »Das wusste ich noch gar nicht«
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