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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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außer deren Mutter jemanden kennengelernt hatte, meinte Zenobia, Anabell schlüge wohl nach ihrem Großvater mütterlicherseits.
    »Das Frühstück ist serviert, Myladys.« Die Bemerkung des Butlers riss Lavinia aus ihren Gedanken, und sie merkte, wie hungrig sie war.
    »Anabell, bitte komm frühstücken«, rief sie ihrer Tochter zu. »Du kannst nachher weiterspielen.«
    Anabell tapste heran und setzte sich auf ihren Stuhl, ohne ihre Puppe aus dem Arm zu lassen.
    »Mama, Clara hat auch Hunger«, sagte sie.
    »Clara? Ist das der Name deiner Puppe?«
    Anabell nickte ernsthaft. »Sie sieht aus wie die Clara.«
    Lavinia unterdrückte ein Schmunzeln. Clara hieß die Tochter eines Pächters, etwas älter als Anabell, die ihren Vater manchmal begleitete, wenn er etwas mit Edward besprechen musste. Dabei hatte Anabell ein paar Mal mit Clara gespielt, obwohl dies von Zenobia missbilligend beobachtet worden war, und Lavinia musste zugeben, dass das Gesicht der Puppe tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Pächterstochter aufwies.
    Das Frühstück verlief schweigend. Es war nicht üblich, sich beim Essen zu unterhalten. Normalerweise aß Anabell nicht zusammen mit den Eltern, sondern mit ihrer Kinderfrau in den Kinderzimmern im zweiten Stock. Da heute jedoch Weihnachten war, wurde eine Ausnahme gemacht.
    Nachdem Edward seine Serviette zur Seite gelegt hatte, klingelte er und bat Monkton, dem Kindermädchen Bescheid zu sagen.
    »Es soll mit Anabell nach oben gehen und die Geschenke mitnehmen. Dort kann das Kind dann weiterspielen.«
    Lavinia hätte gern selbst mit ihrer Tochter gespielt, wusste jedoch, dass Edward dies nicht gerne sah. Was Kindererziehung betraf, lebte er noch im vorigen Jahrhundert, in dem Kinder ausschließlich im Kindertrakt lebten und die Eltern nur ab und zu nach ihnen schauten. Es gab Personal, das sich um die Erziehung kümmerte. Lediglich bei Besuchen wurden die Kinder den Gästen für wenige Minuten vorgeführt, mussten dabei aber wie Puppen still stehen und durften kein Wort sagen. Schon Lavinias Wunsch, sich nach Anabells Geburt selbst um das Kind zu kümmern, hatte Edwards Unwillen erregt, also hatte sich Lavinia seinen Wünschen fügen müssen. In den letzten Jahren waren sie und Anabell nur dann nach London gereist, wenn es zwingend erforderlich war, und hatten die meiste Zeit auf Sumerhays verbracht. Diese Zeit, wenn sie sich voll und ganz ihrer Tochter widmen konnte, war eine besonders glückliche Phase im Leben Lavinias gewesen, die sich nicht nach den Vergnügungen der Stadt sehnte. Leider war das Glück im vergangenen Sommer getrübt worden. Archibald Heddingham, Zenobias zweiter Mann, war gestorben. Seit dem Unfall, an dem Lavinia Schuld trug, hatte sich sein Gesundheitszustand von Jahr zu Jahr verschlechtert, und eine anfangs leichte Sommergrippe hatte sich bald zu einer tödlichen Lungenentzündung entwickelt. Zenobia hatte Ravenwood nach dem Tod ihres Mannes einem Verwalter überlassen und war nach Sumerhays gezogen. Sie überlegte sogar, den Landsitz im Norden zu verkaufen, da sie keine Lust verspürte, jemals wieder dort zu leben. Seit Zenobia ständig im Haus wohnte, hatte Lavinia das Gefühl, Anabell entglitte ihr zusehends. Zenobia teilte die Meinung ihres Sohnes über eine strenge Erziehung und ließ Lavinia kaum Spielraum, sich weiterhin selbst um Anabell zu kümmern. Zusätzlich zum Kindermädchen wurde von Zenobia ein Dienstmädchen eingestellt, die ausschließlich für die Kinderzimmer verantwortlich war. Diese hatte Zenobia selbst ausgesucht und Lavinia vor vollendete Tatsachen gestellt, was sie noch heute furchtbar wütend machte. Dennoch zwang sie sich, nicht an solche Dinge zu denken. Heute war Weihnachten, das Fest der Freude und der Fröhlichkeit, und sie würde ohnehin nichts ändern können.
    »Ist für heute Abend alles vorbereitet?«, fragte Edward und sah seine Frau an.
    Lavinia nickte. »Ich werde nachher mit Mrs. Windle noch ein paar Einzelheiten des Dinners besprechen, aber in der Küche wird seit Tagen gekocht und gebacken.«
    Die Callingtons hatten am Abend zum Weihnachtsdinner geladen. Sie erwarteten fünfundzwanzig Gäste aus Cornwall und aus Devon, und die Vorbereitungen für das Abendessen hatten Lavinia in den letzten Tagen auf Trab gehalten.
    »Es ist eine Zumutung, dass wir diesen Polkinghorn in unserem Haus dulden müssen«, wandte Zenobia mit grimmigem Gesichtsausdruck ein. »Der Mann ist nicht gesellschaftsfähig, ganz gleich, in welche Familie

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