Das Lied der Luege
Tochter ein verträumtes, ängstliches Wesen wird, das sich vor allem und vor jedem fürchtet. Je schneller ein Kind lernt, wie die Welt wirklich ist, desto besser.«
»Ich finde, Edward hat recht.« Lavinia hatte nicht bemerkt, dass ihre Schwiegermutter eingetreten war. »Ich halte auch nichts von dieser Gefühlsduselei. Du verziehst das Kind völlig, Lavinia.«
Lavinia beherrschte sich, keine patzige Antwort zu geben, stattdessen beobachtete sie Anabell, die damit beschäftigt war, einen Karton zu öffnen, der eine Puppe enthielt. Was die Kindererziehung anging, waren sie und Zenobia selten einer Meinung, während Edward sich weitgehend heraushielt. Er interessierte sich lediglich für die Fortschritte, die Anabell beim Reiten machte, obwohl Lavinia fand, dass das Mädchen mit drei Jahren noch zu jung war, um auf einem Pferd zu sitzen, auch wenn es nur ein Pony war. Edward hatte jedoch eine andere Meinung, die er auch durchsetzte. Lavinia wusste, dass ihr Mann Anabell zwar liebte, aber immer noch enttäuscht war, dass sie nicht der erwünschte Sohn geworden war. Er versuchte, aus Anabell einen Jungen zu machen, was natürlich völlig unmöglich war, denn das Mädchen war für ihr Alter klein und zierlich und besaß ein empfindliches Gemüt.
Da es Weihnachtsmorgen war, wurde das Frühstück im Salon serviert und nicht wie sonst üblich im kleinen Morgenzimmer. Draußen war es neblig-trüb, doch die brennenden Kerzen auf dem Weihnachtsbaum erzeugten eine heimelige Atmosphäre, und der Duft der Blautanne durchzog das Zimmer. Anabell jauchzte, als sie die Puppe endlich ausgepackt hatte. Staunend betrachtete sie das Porzellangesicht, das so fein und genau gearbeitet war, als würde die Puppe jeden Moment zum Leben erwachen. Die Augenlider bewegten sich, und glücklich drückte Anabell das Geschenk, das Lavinia ausgewählt hatte, an sich. Der Holzeisenbahn, die Edward für seine Tochter gekauft hatte, schenkte sie ebenso wenig Aufmerksamkeit wie dem Holzschwert von Zenobia. Lavinia hatte mit ihrer Schwiegermutter lange diskutiert, ob es sinnvoll war, einem knapp vierjährigen Mädchen eine Waffe zu schenken, auch wenn diese nur aus Holz war, aber Zenobia stieß in das gleiche Horn wie Edward.
»Da du offenbar nicht in der Lage bist, unserer Familie einen Sohn und Erben zu schenken, und wir uns mit einem Mädchen abfinden müssen, werden wir dafür sorgen, dass aus Anabell eine Frau wird, die mit beiden Beinen im Leben steht. Eines Tages wird sie einen großen Besitz und eine Menge Geld erben. Ich möchte nicht, dass Anabell zum Ziel von Mitgiftjägern wird, sondern dass sie lernt, sich im Leben zu behaupten, und – wenn nötig – das Anwesen auch allein führen kann.«
»Das möchte ich auch«, hatte Lavinia geantwortet, auf eine weitere Diskussion jedoch verzichtet, denn das würde wie üblich zu keinem Ergebnis führen. Außerdem hatte Zenobia sie mit der Anspielung auf ihre Kinderlosigkeit verletzt. Nach Anabells Geburt, über die sich Edward zuerst enttäuscht gezeigt hatte, dann jedoch dem Liebreiz des Kindes verfallen war, hatte er, sobald es medizinisch möglich war, wieder Lavinias Bett aufgesucht. Edward ging ja davon aus, dass sie ein Mal schwanger geworden war – warum also sollte es nicht noch einmal klappen? Und dann würde Lavinia einen Sohn bekommen. Nur Lavinia wusste, dass dies, im wahrsten Sinn des Wortes, vergebliche Liebesmühe war, und ertrug schweigend die Minuten, in denen Edward ihren Körper benutzte, als wäre sie eine Zuchtstute. Nun waren seit Anabells Geburt fast vier Jahre vergangen, aber Lavinia war natürlich nicht wieder schwanger geworden. Zu ihrer Erleichterung hatte Edward in den letzten Monaten seine nächtlichen Besuche reduziert und sich damit abgefunden, dass Anabell wohl sein einziges Kind bleiben würde.
In den letzten Jahren war es Lavinia gelungen, die Wahrheit fast vollständig aus ihrem Kopf zu verbannen. Anabell war ihre Tochter. Ihr Kind, das sie neun Monate in ihrem Bauch getragen und unter Schmerzen geboren hatte. Sie ertappte sich sogar dabei, wie sie in Anabells Gesicht nach Ähnlichkeiten mit ihr oder Edward suchte. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass Anabell dunkelbraune Augen hatte und ihr anfangs helles Haar sich mit der Zeit in ein sanftes Hellbraun wandelte wie das von Lavinia. Aber weder der Schnitt der Augen noch ihre Nase oder die Mundform entsprachen dem Aussehen der Familie Callington. Da aber weder Edward noch Zenobia aus Lavinias Familie
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