Das Lied der Luege
wir alle ein und begrüßten so das neue Jahr. In dieser Nacht ging niemand schlafen, wir feierten bis zum Morgengrauen. Dann servierten die Diener ein reichhaltiges Frühstück, und ich legte mich erst gegen Mittag des Neujahrstags kurz hin.«
»Theo und ich haben den Jahreswechsel ganz ruhig in einem Restaurant in Soho verbracht«, bemerkte Doro, und eine leichte Röte überzog ihre Wangen. »Ebenso wie ich wollte er kein großes Fest besuchen, auch wenn er zahlreiche Einladungen bekommen hatte. Danach gingen wir an der Themse spazieren und tranken Wein in einer Bar, die noch geöffnet hatte. Es war eine der schönsten Nächte meines Lebens.«
Nicht zum ersten Mal bemerkte Susan den Glanz in Doros Augen, wenn sie von Theo sprach. Offenbar hegte die Freundin zarte Gefühle für den Theaterbesitzer. Bisher hatte Susan jedoch nicht bemerkt, dass Theo diese erwiderte. Dass die beiden nun gemeinsam die Silvesternacht verbracht hatten, war vielleicht ein Anfang. Susan wollte Doro nicht bedrängen, zumal diese die sentimentale Anwandlung sofort zur Seite schob und betont burschikos fragte: »Du warst zehn Tage in Frankreich. Was habt ihr an den anderen Tagen unternommen?«
»Die Vormittage verbrachte jeder Gast nach Lust und Laune. Manche standen früh auf und machten ausgiebige Spaziergänge, andere schliefen, bis das Mittagessen serviert wurde. Ich gehörte eher zu Letzteren.« Susan lachte. »Das lag aber daran, dass ich kaum eine Nacht vor drei oder vier Uhr ins Bett gekommen bin.«
»Allein?«, warf Doro ein, Susan ging jedoch nicht darauf ein, sondern fuhr fort: »Einmal organisierte Sarah einen Ausflug zum Krabbenfang. Mit einem Netz in der Hand, auf dem Kopf einen großen Schlapphut, der von flatternden, weißen Tüllschleiern gehalten wurde, den Rock bis über die Knie aufgesteckt, watete Sarah hinaus ins kalte Wasser, während die Gäste am Ufer standen und sie anfeuerten. An diesem Abend bekamen wir einen guten Fang serviert. Es ist immer wieder erstaunlich, über wie viel Kraft und Energie diese Frau verfügt. Sieht man nicht Sarahs Gesicht, in dem das Alter seine Spuren hinterlassen hat, so meint man, ein junges Mädchen vor sich zu haben. Leider hat Sarah seit einiger Zeit immer wieder Schmerzen in einem Bein, so dass sie sich manchmal auf einen Stock stützen muss. Ihrer Lebenslust tut dies jedoch keinen Abbruch, diese Frau ist unternehmungslustiger als ich.«
Doro seufzte und verdrehte träumerisch die Augen.
»Ich wünschte, ich hätte dabei sein können. Wenn Sarah Bernhardt das nächste Mal zu einem Gastspiel nach London kommt, muss ich mir unbedingt eine Vorstellung ansehen.«
Susan schmunzelte und drohte Doro tadelnd mit dem Finger.
»Es ist eine Schande, dass du Madame Sarah noch nie auf der Bühne gesehen hast. Gerade du, die doch nur für das Theater lebt.«
Doro lachte und griff nach ihrem Weinglas. In diesem Moment klopfte es. Unwillig verzog sie das Gesicht, denn sie war über eine Störung wenig erfreut. Gerne hätte sie noch länger Susans Erzählungen gelauscht.
»Herein«, rief Doro und fügte leise, so dass es nur Susan hören konnte, hinzu: »Wenn es sein muss.«
Susan grinste, das Lachen erstarb jedoch auf ihren Lippen, als sie die Frau sah, die Doros Büro betrat. Nein, betrat war das falsche Wort – sie schien regelrecht in den Raum zu schweben. Sie war etwa in Susans Alter, groß und schlank, an den richtigen Stellen wohlproportioniert, mit nachtschwarzem Haar und veilchenblauen Augen. Neidlos musste Susan zugeben, dass sie selten eine schönere Frau gesehen hatte.
»Bin ich hier richtig, wenn ich ein Engagement haben will?« Die Dame hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. Ihre Stimme klang etwas rauchig, und hinter ihren vollen roten Lippen blitzten zwei Reihen ebenmäßiger, schneeweißer Zähne.
Langsam erhob sich Doro aus ihrem Stuhl.
»Das kommt darauf an«, sagte sie zögernd. »Wer hat Sie zu mir geschickt?«
Die Frau machte eine abwertende Handbewegung.
»Ach, irgend so ein kleiner, hässlicher Mann mit Glatze und Bauch, der mich am Eingang aufhalten wollte und meinte, das Theater habe geschlossen. Ich sagte ihm jedoch, er würde es für den Rest seines Lebens bereuen, wenn er mich nicht einließe.«
»Aha.« Doro sagte nur dieses eine Wort, aber Susan, die ihre Freundin gut kannte, merkte, wie sie sich über das unverschämte Auftreten der Fremden ärgerte. »Bei diesem kleinen Mann, den Sie so abwertend beschreiben, handelt es sich um Peter, den Portier
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