Das Lied der Luege
begleiten. In dem Moment, als Lavinia das dachte, wusste sie, dass sie auf keinen Fall Edward dabeihaben wollte. Sie wollte mit Sebastian Eathorne allein sein. Was geschah mit ihr? Warum dachte sie so etwas? Sie kannte den Mann doch überhaupt nicht, und in den vergangenen Stunden hatte er sich wenig gesprächig gezeigt. Nur weil er sie von der Anwesenheit Polkinghorns befreit hatte, war das noch lange kein Grund, sich gegen das Wissen ihres Mannes mit ihm zu verabreden.
»Lavinia Callington, er ist nur höflich gewesen«, murmelte sie, um sich selbst von den Worten zu überzeugen. »Was ist schon dabei, einem neuen Nachbarn die Umgebung zu zeigen? Selbst Edward kann darin nichts Unschickliches sehen.«
Während Lavinia in den Salon zurückging, wusste sie, dass sie weder Zenobia noch Edward von der Verabredung mit Eathorne erzählen würde. Sie ritt öfter allein aus, es würde also nicht auffallen, wenn sie es übermorgen wieder tat. Vielleicht regnete es ja auch, und die ganze Sache fiel ins Wasser und wäre damit erledigt. Lavinia wusste jedoch, dass sie genau dies nicht hoffte.
13. Kapitel
U nd … erzähl!« Doro beugte sich vor, und ihre hellen Augen blitzten interessiert hinter den dicken Brillengläsern. »Hält die Bernhardt wirklich wilde Tiere wie Löwen und Tiger in ihrem Haus? Die da frei herumlaufen?«
Susan schüttelte lachend den Kopf.
»Ganz so schlimm ist es nicht, liebe Doro. Sarah hat lediglich einen Puma, der ist aber ganz zahm, und sie führt ihn an der Leine. Nachts ist er in einem Käfig eingesperrt. Gut, im Sarahtorium tummeln sich noch eine Boa Constrictor, zwei kleine Totenkopfäffchen, bei denen man stets aufpassen muss, dass sie einem nicht das Essen vom Teller stehlen, dann noch vier Bluthunde und natürlich eine Menge Katzen, die nach Strich und Faden verwöhnt werden. Sarah ist sehr tierlieb, am liebsten würde sie die ganze Menagerie auf ihre Reisen mitnehmen.«
Doro schüttelte sich vor Entsetzen. »Keine einzige Nacht könnte ich es mit diesen Tieren unter demselben Dach aushalten. Da können wir ja froh sein, dass du heil und mit allen Körpergliedern wieder zurückgekommen bist.«
Susan griff nach der Weinflasche und schenkte die Gläser wieder voll. Am Nachmittag war sie in London eingetroffen, hatte ihr Gepäck in ihre Wohnung schicken lassen und war gleich ins Theater geeilt. Für Doro und Theo hatte sie je eine Kiste Merlot-Cabernet aus Frankreich mitgebracht. Theo befand sich den ganzen Tag irgendwo in der Stadt, aber die Freundin hatte es sich nicht nehmen lassen, eine der Flaschen gleich zu öffnen und mit der Freundin auf deren Rückkehr anzustoßen. Da es im Theater keine kostbaren Weingläser gab, schimmerte der Wein dunkelrot in den einfachen Wassergläsern, was seinem fruchtig-herben Geschmack jedoch keinen Abbruch tat.
Die Tage in Sarah Bernhardts Haus auf der Belle-Île waren für Susan so aufregend und erlebnisreich gewesen, dass sie jetzt nicht in die Stille ihrer Wohnung gehen und für sich allein sein konnte. Susan wusste, in Doro hatte sie eine aufmerksame Zuhörerin.
»Wir waren eine bunt zusammengewürfelte Gruppe«, erzählte Susan. »Maler, Schriftsteller, Musiker, Politiker und Personen, die sich durch nichts anderes auszeichneten, als amüsant zu sein und das Geld, das ihre Vorfahren erwirtschaftet haben, mit beiden Händen auszugeben. Ich glaube, zum Jahreswechsel waren es an die sechzig Gäste, die in dem Haus logierten.«
»Dann war es ein rauschendes Fest?«, fragte Doro. »Du siehst jedenfalls gut erholt aus.«
Susan nickte. »Es war wundervoll, nie zuvor hatte ich so viel Spaß.«
»Und … waren auch interessante Männer dort?« Doro zwinkerte Susan verschwörerisch zu. »Vielleicht etwas Brauchbares?«
Für einen kurzen Moment huschte ein Schatten über Susans Gesicht, sie hatte sich aber gleich wieder im Griff. Ja, sie hatte einen Mann kennengelernt, aber von dieser Geschichte würde sie Doro nichts erzählen. Obwohl es in Theaterkreisen locker und unkonventionell zuging und Doro schon so manches mit ihren Schützlingen erlebt hatte, für
diese
Sache würde die Freundin wenig Verständnis aufbringen. Daher sprach Susan schnell weiter.
»Als es zwölf Uhr schlug und das Jahr 1911 anbrach, standen wir alle, obwohl es bitterkalt war, auf dem kleinen Turm, der dem Haus das Aussehen einer Festung gibt. Der Champagner wärmte uns von innen, und irgendjemand begann zu singen. Obwohl ich kaum ein paar Worte des Liedes verstand, stimmten
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