Das Lied der Luege
heraus.
»Es tut mir leid, Miss Montoya, aber hier werden keine Entscheidungen über den Kopf von Mr. Murphy hinweg getroffen. Morgen beginnen wir mit den Proben für ein neues Stück, daher weiß ich nicht, wann der Direktor Zeit für Sie haben wird.«
»Hören Sie, Miss Hawkins.« Esperanza stützte sich mit einer Hand auf den Schreibtisch und sah Doro fest in die Augen. »Wegen des neuen Stückes bin ich gekommen. Ich bin für die Hauptrolle geradezu prädestiniert. Darum denke ich, wir sollten keine Zeit verlieren, damit ich morgen mit den Proben beginnen kann.« Ihr Blick schweifte missbilligend über die zahlreichen Aktenordner und Papierstapel, die im Büro verstreut waren. »Sie haben doch sicher irgendwo das Textheft herumliegen? Geben Sie es mir mit, dann kann ich mich heute Abend in die Rolle einlesen.«
Deutlich hörbar schnappte Susan nach Luft. Vor Wochen hatte sie den Vertrag für das neue Stück, in dem sie die Hauptrolle spielen sollte, unterzeichnet und sich während ihres Urlaubs in Frankreich bereits auf die Proben vorbereitet.
»Es tut mir leid, Miss Montoya«, sagte sie und trat vor Esperanza. »Die Hauptrolle ist bereits vergeben, aber vielleicht gibt es die Möglichkeit einer kleineren Nebenrolle für Sie.«
»Nebenrolle?« Spöttisch lachend warf Esperanza den Kopf zurück. »Ich gebe mich nicht mit Nebenrollen zufrieden. Ihr Direktor wird froh sein, mich in seinem Ensemble haben zu können, außer, er ist nicht daran interessiert, dass die Kasse klingelt. Sie, Miss Peggy, können ja die Zweitbesetzung spielen, wenn Sie sich schon auf die Hauptrolle vorbereitet haben.«
»Die Besetzung des neuen Stückes steht«, gab Susan scharf, die Hände zu Fäusten geballt, zurück. »Ich glaube kaum, dass Theo daran noch etwas ändern wird.«
»Das wage ich zu bezweifeln …«
Doro, die merkte, dass die beiden Schauspielerinnen nahe daran waren, aufeinander loszugehen, trat beschwichtigend zwischen Susan und Esperanza. Sie mochte Susan zwar und war ihr eine Freundin geworden, in erster Linie war sie jedoch Geschäftsfrau und für die Finanzen des Theaters zuständig. In diesem Punkt vertraute Theo ihr blind, der mit nüchternen Zahlen nichts am Hut hatte, sondern seine Zeit und Energie lieber in die Inszenierung der Stücke investierte. Obwohl ihr Esperanza Montoya von ganzem Herzen unsympathisch war und ihr deren arrogantes Auftreten gegen den Strich ging, war sie vielleicht eine gute Schauspielerin und damit eine Bereicherung für das
Blue Horizon
. Sie war nicht umsonst am
Royal Court
aufgetreten, dieses Theater engagierte keine Dilettanten.
»Miss Montoya, Sie wissen es vielleicht nicht, aber bei unserem neuen Stück handelt es sich nicht um einen Klassiker, wie Sie es bisher gewohnt waren zu spielen, sondern um ein einfaches Lustspiel, das erstmalig auf einer Bühne gezeigt wird. Im Gegensatz zum Royal Court versteht sich das Blue Horizon als Theater für das Volk. Unsere Zuschauer sind Kaufleute, Handwerker und andere einfache Bürger. Wenn Sie eine Rolle wie die Iphigenie gespielt haben, werden Sie sich kaum mit etwas Geringerem zufriedengeben.«
»Das lassen Sie meine Sorge sein.« Esperanza blickte kühl auf Doro hinab, und dieser blieb nichts anderes übrig, als zu kapitulieren.
»Nun gut, Sie können warten«, sagte sie mit einem Seufzer. »Ich habe allerdings keine Ahnung, wann und ob Mr. Murphy heute noch ins Theater kommt.«
Susan sah die Freundin missbilligend an und deutete dann auf die halb gefüllten Weingläser.
»Dann bin ich hier wohl überflüssig«, sagte sie spitz. »Wir können unsere Unterhaltung ja ein andermal fortsetzen.«
Susan griff nach ihrem Mantel und verließ das Büro. Sie war von Doro enttäuscht, denn ihrer Meinung nach hätte Doro diese arrogante Ziege hinauswerfen sollen. Schließlich war sie, Susan, der Star des
Blue Horizon
, und mochte diese Esperanza auch wunderschön und vielleicht auch eine recht passable Schauspielerin sein – sie würde sich von ihr nicht die Rolle wegnehmen lassen. Susan vertraute auf Theo, der schließlich wusste, was er an ihr hatte.
Susan verzichtete auf die U-Bahn und ging den Weg zu ihrer Wohnung zu Fuß. Sie brauchte jetzt frische Luft. Der Abend war zwar kühl, aber trocken, und während ihre Absätze auf dem Asphalt klapperten, war sie froh, Doro nichts von ihrem Erlebnis in Sarah Bernhardts Haus erzählt zu haben, das ihren Aufenthalt ein wenig überschattet hatte. In der Silvesternacht hatte Susan viel mit
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