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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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konnte, und das Kind zeigte ihr, wie man sie an- und auskleidete. Dabei tranken sie Tee, aßen Apfelkuchen – Anabell bekam natürlich wieder eine kleine Schale Eis –, und Susan ließ es sich nicht nehmen, die Rechnung zu begleichen.
    »Es macht mir Freude, die Zeit mit Ihnen und der Kleinen zu verbringen«, sagte sie, als Nancy protestieren wollte. »Ich kenne sonst niemanden in Cornwall, und meine Ferien sind bald zu Ende. Lassen Sie mir bitte die Freude, Miss Lewarne.«
    »Ich weiß nicht …« Nancy zögerte. »Ich sagte Ihnen bereits, dass meine Herrin nicht möchte, dass Anabell Kontakt zu Fremden hat.«
    Lächelnd legte Susan eine Hand auf Nancys Arm.
    »Aber meine Liebe, wir sind doch keine Fremden mehr.«
    Das Kindermädchen schien beruhigt, und die Zeit, bis die beiden zum Herrenhaus zurückgehen mussten, verging für Susan wie im Flug. Sie stellte fest, dass Anabell für ihr Alter zwar recht mager war – sie selbst war ja auch eher zierlich –, dass ihre Intelligenz, ihre Auffassungsgabe jedoch die einer Viereinhalbjährigen weit übertrafen. Anabell war sehr klug und verfügte über einen reichhaltigen Wortschatz. Auch sprach sie schon in vollständigen, grammatikalisch richtigen Sätzen. Vor Stolz ging Susan das Herz auf. Offenbar hatte das Mädchen nichts von ihrem Erzeuger, diesem schmierigen und einfältigen Vermieter, mitbekommen, sondern schlug ganz nach ihr. Im Gegensatz zu Jimmy, der im Aussehen und im Verhalten stets Pauls Sohn gewesen war. Dennoch hatte Susan Jimmy nicht minder geliebt, und noch heute, Jahre nach seinem Verschwinden, tat jeder Gedanke an ihren verlorenen Sohn weh.
     
    In den folgenden zwei Wochen traf Susan Anabell und Nancy Lewarne noch fünf Mal. Einmal machten sie einen Spaziergang ins Landesinnere zu den wenigen Häusern, die das Dorf Talland bildeten. Beherrscht wurde der Ort von einer alten Kirche mit einem niedrigen, langgestreckten Kirchenschiff und einem normannischen Turm. Bei der Besichtigung der Kirche kam Susan mit einer Frau, die den Blumenschmuck auf dem Altar arrangierte, ins Gespräch. Sie erfuhr, dass
Saint Tallanus’ Church
, wie das Gotteshaus hieß, nach dem Heiligen St. Tallanus benannt worden war, der hier im fünften Jahrhundert siedelte.
    »Funde haben jedoch ergeben, dass hier bereits zu Zeiten der Kelten eine Siedlung bestanden hat«, erklärte die freundliche Dame. »Nach dem Heiligen wurden auch das Dorf und die Bucht benannt.«
    »Wo ist der Heilige?« Anabells Blick suchte das Kircheninnere ab, dann richteten sich ihre Augen unschuldig auf Susan. »Ich habe noch nie einen Heiligen gesehen.«
    Die Frauen lachten, und Susan strich Anabell zärtlich übers Haar.
    »Der ist schon lange nicht mehr hier, meine Kleine, aber jeder, der in dieser Kirche weilt, spürte seine Anwesenheit. Heilige kann man nämlich nicht sehen, Anabell.«
    »Aha.« Anabell steckte einen Daumen in den Mund und begann, von einem Fuß auf den anderen zu treten. Ihr wurde langweilig, bei dem schönen Wetter wollte sie lieber draußen spielen.
    Als Susan sich wenig später von Anabell und Nancy verabschiedete, schlang das Kind plötzlich seine Arme um ihren Nacken und flüsterte: »Ich hab dich lieb, Tante.«
    Susan musste schlucken, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihre Augen feucht wurden.
    Ich dich auch, mein Kind, dachte sie. Oh, du weißt gar nicht, wie sehr ich dich liebe.
    Während ihre Tochter an der Hand des Kindermädchens fortging, sah Susan den beiden lange nach. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die Bekanntschaft mit Anabell nicht nur zu suchen, sondern diese auch noch zu vertiefen. Doch um nichts in der Welt wollte sie auf die letzten Tage, die mit zu den glücklichsten in ihrem Leben zählten, verzichten.
     
    Der August neigte sich dem Ende zu. In der Luft lag bereits der erste Hauch des nahenden Herbstes, der in Cornwall zwar später als im Osten des Landes Einzug hielt, sein Kommen jedoch nicht mehr verbergen konnte. Die Tage waren noch warm, der Himmel von einem fast überirdischen Blau, doch an den Abenden zündete Susan das Kaminfeuer in ihrem Cottage an. Es wurde ihr bewusst, dass sie bald eine Entscheidung treffen musste, wie es weitergehen sollte. Sie musste sich zwar keine finanziellen Sorgen machen, was für Susan, die über zwanzig Jahre ihres Lebens mehr schlecht als recht von der Hand in den Mund gelebt hatte, zwar eine neue Erfahrung war, sie merkte aber auch, dass sie nicht für Müßiggang geschaffen war. Sie wollte wieder

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