Das Lied der Luege
Kind … mein kleines Mädchen … Für einen Moment begann der Boden, unter Susans Füßen zu schwanken.
»Ist Ihnen nicht wohl, Miss?« Nancy Lewarne sah Susan erschrocken an. »Sie sind ja ganz blass. Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«
»Ja, Wasser, das wäre sehr freundlich. Es ist nur die ungewohnte Hitze …«
Während das Kindermädchen in die Teestube ging, um das Gewünschte zu holen, konnte Susan der Versuchung, Anabells Hand zu ergreifen, nicht widerstehen. Ihre Haut war warm und samtig weich.
»Bist du glücklich, Anabell?«, flüsterte sie. Das Kind hob den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Susan las in Anabells Augen, dass das Mädchen mit ihrer Frage nichts anfangen konnte, und fuhr schnell fort: »Mach dir keine Sorgen, die Sache mit dem Tee ist nicht schlimm. Schau, mein Rock ist schon wieder getrocknet.«
»Papa wird schimpfen. Papa schimpft immer, wenn ich etwas kaputt mache, dabei will ich doch ein braves Mädchen sein.«
Anabells Worte schnitten Susan ins Herz.
»Und deine Mutter?«
Ein Strahlen ging über Anabells Gesicht. »Mami ist immer lieb. Papa ist auch nicht oft da, meistens bin ich mit Mami und Nanny allein.«
Nancy Lewarne hatte die letzten Worte gehört. Sie reichte Susan ein Glas kühles Wasser, das diese an die Lippen setzte und einen langen Schluck nahm.
»Die Kleine sagt immer Nanny zu mir«, erklärte Miss Lewarne. »Ihre Mutter möchte nicht, dass sie mich beim Vornamen nennt, aber Miss Lewarne klingt so streng. Und Nanny heißen ja bekanntlich alle Kindermädchen.«
Susan lächelte. »Stammen Sie aus der Gegend, Miss Lewarne?«
»Ja, ich komme aus der Nähe von Launceston, mein Vater hat dort eine kleine Pfarrei. Wir sind jedoch acht Kinder, davon fünf Mädchen. So musste ich schon früh selbst für meinen Lebensunterhalt sorgen. Da ich Kinder über alles liebe und sechs meiner jüngeren Geschwister mit versorgt habe, lag es nahe, eine Stellung als Kindermädchen anzutreten.«
»Und Sie haben es gut getroffen, dass Sie in Ihrer Heimat bleiben konnten«, stellte Susan fest. Sie wusste, dass sie dabei war, die freundliche und auch etwas naive Nancy auszufragen, aber sie konnte nicht anders handeln. Überraschend bot sich ihr hier die Möglichkeit, etwas über Anabell und ihr Leben zu erfahren.
»Nun, die Familie ist sehr oft in London.« Ein Schatten fiel über Nancys hübsches Gesicht. »Ich mag die Stadt nicht, auch Lady Lavinia hält sich viel lieber auf dem Land auf.«
»Lady Lavinia?«, fragte Susan unschuldig, als hätte sie den Namen nie zuvor gehört.
Nancy nickte. »Lady Lavinia Callington, die Viscountess of Tredary und Herrin von Sumerhays.« Plötzlich musterte Nancy Susan skeptisch. »Sie sind nicht von hier, Miss …?«
»Landsbury«, antwortete Susan schnell. Charles’ Name war der erste, der ihr einfiel. »Mrs. Dorothea Landsbury, ich bin Witwe«, fuhr sie fort. »Mein verstorbener Mann und ich verbrachten einst unsere Flitterwochen in Cornwall, ursprünglich komme ich aus London.«
»Oh, das tut mir leid.« Nancys Gesicht überzog eine leichte Röte. »Ich meine, nicht, dass es mir leidtut, dass Sie aus London stammen, sondern dass Sie in so jungen Jahren bereits verwitwet sind. Ich wollte allerdings nicht neugierig sein.«
Susan nickte wohlwollend. Wenn du wüsstest, wie neugierig ich bin, dachte sie. Sie sah, dass Anabell das Eis aufgegessen hatte, und fragte das Kind: »Möchtest du mit mir etwas Ball spielen? Vielleicht am Strand, wo man keine Leute treffen kann?«
Anabell sprang so schnell von ihrem Stuhl hoch, dass sie die kleine Schale, in der das Eis gewesen war, umstieß und diese scheppernd zu Boden fiel. Zum Glück war sie aus Metall, so dass es keine Scherben gab.
»Anabell!« Nancy stieß einen Schrei aus. »Kannst du dich nicht ein Mal beherrschen?«
»Tut mir leid«, nuschelte das Kind und griff nach Susans Hand. Als sich ihre kleine Hand in Susans schob, spürte Susan ein so starkes Glücksgefühl wie nie zuvor. Gemeinsam liefen sie zum Strand, und in der folgenden Stunde warfen sie einander den roten Ball zu. Es war beinahe so, als wäre Anabell Susans Kind, und Susan vergaß, dass es nur eine geliehene Zeit war, die sie mit Anabell verbringen durfte.
Als Nancy Lewarne zum Aufbruch mahnte – »es ist Zeit fürs Abendessen, ich fürchte jedoch, das Kind wird nach dem Eis keinen Hunger mehr haben« –, machte Susans Herz einen Sprung, als Anabell unschuldig fragte: »Bist du morgen auch wieder hier,
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