Das Lied der Luege
dann gnade Ihnen Gott!«
Lavinia umklammerte Susans Handgelenk so fest, dass sie vor Schmerz aufschrie. Die Wut in ihren Augen wandelte sich in Hass, und unwillkürlich dachte Susan daran, dass sie einst vermutet hatte, Lavinia habe mit Hilfe des Jungen der Nankerris den Unfall des Mannes ihrer Schwiegermutter zu verantworten. Sie bemühte sich jedoch, keine Angst zu zeigen, und hielt Lavinias Blick mit hocherhobenem Kopf stand.
»Ich habe keine Angst vor Ihnen.« Susans Stimme klang selbstbewusster, als ihr zumute war. »Was können Sie schon unternehmen, Lady Lavinia? Es wird kaum in Ihrem Interesse sein, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, oder?«
»Dies wird, solange ich lebe, niemals geschehen«, antwortete Lavinia im Brustton der Überzeugung. »Selbst wenn Sie reden sollten – wer würde Ihnen schon glauben?« Lavinia lachte spöttisch. »Ihnen, eine Frau mit zweifelhaftem Ruf, die sich den Blicken fremder Männer darbietet und sich ihnen an den Hals wirft, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«
Susan schnappte nach Luft. »Ich bin eine ernsthafte Schauspielerin, die …«
»Ach, halten Sie den Mund!« Scharf unterbrach Lavinia Susan. Sie beugte sich so dicht zu Susan vor, dass ihre Nasen nur eine Handbreit voneinander entfernt waren. »Wir alle wissen, welchen Lebenswandel sogenannte
Schauspielerinnen
führen, und ich möchte davon nichts mehr hören. Sie verschwinden noch heute aus Cornwall und bleiben meiner Tochter fern. Es wäre doch schade, wenn Sie einen kleinen Unfall erleiden würden, oder?«
Die Drohung war unmissverständlich. Susan ballte die Hände zu Fäusten, wusste jedoch, dass Lavinia in der besseren Position war. Wenn sie mit der Wahrheit an die Öffentlichkeit trat, würde ihr niemand Gehör schenken. Man würde annehmen, die Geschichte entspränge ihrer übersteigerten Fantasie, sie wolle damit Aufmerksamkeit, Ruhm und auch Geld erringen. Sie wäre für alle Zeiten erledigt und würde niemals wieder ein Engagement an einem anständigen Theater bekommen. Trotzdem machte sie einen letzten Versuch und sah Lavinia herausfordernd an.
»Was ist mit den Menschen, die wissen, wessen Kind Anabell ist? Caja Nankerris oder das Ehepaar Windle? Gut, sie alle mögen bisher geschwiegen haben, doch ich bin jetzt vielleicht in der Lage, ihnen mehr zu bezahlen als Sie, Lady Lavinia. Geld löst so manche Zunge.«
Lavinia lachte abfällig.
»Die Nankerris sind schon lange nicht mehr in Cornwall. Mein Mann und ich haben Denzil seinen langgehegten Wunsch nach einer eigenen Farm erfüllt. Bevor Sie jetzt versuchen, die Familie ausfindig zu machen, kann ich Ihnen gerne verraten, dass sie sich nicht mehr in England befinden. Der gute, alte Mr. Windle ist im letzten Jahr gestorben. Er war zwar ein guter Arbeiter, hat aber leider nie einen Penny für später zurückgelegt. Da Mrs. Windle keine Verwandten hat oder sonst jemanden, an den sie sich wenden könnte, würde für sie nur der Weg ins Armenhaus bleiben, wenn ich meine treue Haushälterin aus Sumerhays rauswerfen würde. Sind Sie nicht auch meiner Meinung, Susan?«
Susan senkte den Kopf und wandte sich zum Gehen. Es gab nichts mehr, was sie sagen konnte oder wollte. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen, dennoch wollte sie die Tage mit Anabell nicht missen und würde sich für den Rest ihres Lebens daran erinnern. Kurz überlegte sie, ob sie Lavinia sagen sollte, dass sie sie für den Unfall an ihrem Stiefvater verantwortlich machte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Es war eine reine Spekulation, für die sie ebenso wenige Beweise hatte wie dafür, dass Anabell ihre Tochter war. Lavinia Callington besaß nicht nur das Geld, sondern auch die Macht, während ihr, Susan, die Hände gebunden waren. Langsam und müde, als wäre sie etliche Jahre älter, ging Susan davon. In ihrem Rücken hörte sie das Kichern von Lavinia Callington, die ihr leise nachrief: »Versuchen Sie nicht, sich mit mir anzulegen, wenn Sie gesund und unverletzt bleiben möchten.«
Susan hatte keinen Zweifel, dass Lavinia die Drohung, ihr etwas anzutun, wahr machen würde. Sie musste Anabell ein für alle Mal vergessen und aus ihren Gedanken streichen.
16. Kapitel
L avinia Callington war keinesfalls so ruhig und überlegen, wie sie sich in der Talland Bay gegeben hatte. Kaum war Susan außer Sicht, sank sie auf den nächstbesten Felsen, die zahlreich den Strand säumten, und versuchte, ihren zitternden Körper unter Kontrolle zu bekommen. Ihre schlimmsten
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