Das Lied der Luege
Fußtritt verpasst, sie verhielt sich jedoch ruhig und beschloss, ihm später zu sagen, dass sie keinesfalls gewillt war, aus dem Stegreif hier ein Lied zum Besten zu geben. Susan war zwar nicht schüchtern – Schüchternheit stand einer Schauspielerin schlecht zu Gesicht –, und sie hätte sich durchaus einen Auftritt in der zweiten oder dritten Klasse vorstellen können, scheute jedoch vor der Gesellschaft, die hier im Speisesaal versammelt war, zurück. Ja, wenn sie so bekannt und auch so gut wie Sarah Bernhardt wäre, dann wäre es ihr eine Freude gewesen. So jedoch würden die eleganten Damen nur abfällig die Nase rümpfen, wenn bekannt würde, dass eine Schauspielerin ohne Rang und Namen sich unter ihnen befand.
»Es wäre mir eine Freude, Sie singen zu hören«, sagte Daniel Draycott und sah Susan lächelnd an.
Er hat schöne Augen, dachte Susan sofort. Dunkelbraun, mit einem grünen Kranz um die Pupille, und auch sonst war Daniel Draycott ein attraktiver Mann. Vielleicht ein oder zwei Jahre älter als sie, mittelgroß und von gutem Körperbau, und in seinem dunkelbraunen Haar zeigte sich noch keine graue Strähne.
Er griff zu seinem Weinglas, trank es aus und erhob sich dann. Mit einer leichten Verneigung zu Susan sagte er: »Sie entschuldigen mich bitte? Ich möchte mich früh zu Bett begeben.«
Susan merkte, wie sie Draycott nachschaute, als er den Speisesaal durchquerte. Sein Gang war aufrecht und leicht federnd, und so manche Blicke anderer Damen folgten dem Gentleman aus Boston ebenfalls.
Nach dem Essen brachte Kingsley Susan zu ihrer Kabine. Er selbst wollte noch in den Rauchsalon gehen und hoffte, dort ein paar Herren zu finden, die er zu einer Pokerrunde überreden konnte. Susan war sehr müde, hatte sie in der Nacht zuvor ja kein Auge zugetan. Sie vergewisserte sich, dass die Verbindungstür zu Kingsleys Kabine abgeschlossen war. Nicht, dass sie befürchtete, Kingsley könnte mitten in der Nacht vor ihrem Bett stehen, aber sicher war sicher. Obwohl Susan müde und erschöpft war, konnte sie lange nicht einschlafen. Sie lag in ihrem Bett, ließ eine kleine Lampe brennen und blickte zum grünen Baldachin hinauf, der sich wie ein Himmel über ihr spannte. Nie zuvor hatte sie in einem Himmelbett geschlafen, und sie begann, sich an den ungewohnten Luxus zu gewöhnen. Wenn Schauspielerin am Broadway zu sein bedeutete, künftig immer so leben zu können, dann würde sie alles daransetzen, um nach den drei Monaten in New York bleiben zu können. Sie lauschte den leisen, nur bei Stille wahrnehmbaren Motorgeräuschen des Schiffes. Bei ihren Schiffsreisen über den Ärmelkanal hatte Susan stets das laute Dröhnen der Motoren gehört und ein stetiges Schwanken des Schiffes gespürt. Hier auf der Titanic war jedoch kaum etwas zu hören, und das Schiff schien völlig bewegungslos auf dem Wasser zu liegen. Sie legte eine Hand auf die polierte Platte ihres Nachtschränkchens. Jetzt spürte sie etwas. Es war eine leichte, kaum wahrnehmbare Vibration, die anzeigte, dass sich die Titanic in voller Fahrt auf dem Meer bewegte.
Am nächsten Vormittag erreichten sie gegen elf Uhr Queenstown an der irischen Südküste. Die kleine Hafenstadt, die ursprünglich einmal Cobh hieß und nach einem Besuch von Königin Victoria im Jahre 1849 unbenannt wurde, war die letzte Station der Titanic auf ihrer Reise über den Ozean. Der Wind hatte aufgefrischt, und es war zu kalt, um an Deck zu sitzen. Dennoch ließ Susan es sich nicht nehmen, die Ankunft der neuen Passagiere vom Deck aus zu beobachten. Es handelte sich hauptsächlich um Iren, die in Amerika versuchen wollten, sich ein neues Leben aufzubauen, Passagiere der ersten Klasse stiegen keine zu, und nur sieben Personen der zweiten Klasse. Zusätzlich wurden 1385 Postsäcke und einige Tonnen mit Lebensmitteln verladen. Irgendjemand, der in Susans Nähe stand, sagte, die Titanic habe jetzt 2207 Menschen an Bord, ihre Kapazität sei jedoch nicht völlig ausgeschöpft. Für Susan war das eine unvorstellbare Anzahl von Menschen, die sich auf diesem schwimmenden Riesen tummelten. Von ihrem Platz aus blickte Susan auf das unter ihr liegende Deck, das zu dem Bereich der Zwischendeckpassagiere gehörte. Diesen, auch Dritte-Klasse-Passagiere genannt, war es untersagt, die Decks der ersten und der zweiten Klasse zu betreten. Susan fiel eine Frau ins Auge, die allein an der Reling stand und ihren Blick starr auf den immer kleiner werdenden Küstenstreifen Irlands richtete.
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