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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Ihre Kleidung war ärmlich und für diese Jahreszeit viel zu dünn, so viel konnte Susan von hier oben erkennen. Durch ihr rötlich blondes Haar zogen sich graue Strähnen, und tiefe Falten hatten sich in dem Gesicht, das früher einmal sehr schön gewesen sein musste, eingegraben. Plötzlich drehte die Frau den Kopf, und ihre Blicke kreuzten sich. Die Frau war nicht mehr jung, sicher schon Mitte bis Ende vierzig, in ihren Augen lag so viel Schmerz und Hoffnungslosigkeit, als würde sie nicht in ein neues Leben, sondern zu ihrer eigenen Hinrichtung fahren.
    »Sie sieht aus, als hätte sie großen Kummer.« Susan sprach ihre Gedanken laut aus.
    »Wer?«
    Sie hatte nicht bemerkt, wie Leonard Kingsley neben sie getreten war.
    »Ach, ich habe zufällig jemanden beobachtet.« Susan deutete auf die Frau auf dem unteren Deck. »Sie wirkt auf mich so traurig, fast schon verzweifelt. Die anderen auf dem Deck sind alle vergnügt, denn für sie beginnt in Amerika ein neues Leben, doch die Frau scheint ihre Heimat nur ungern zu verlassen.«
    Kingsley lachte. »Sie haben eine blühende Fantasie, Miss Peggy. Sie wissen doch gar nichts über die Frau. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass sie Irin ist und in den Staaten auf ein besseres Leben hofft.« Kingsley zog unwillig die Mundwinkel nach unten, als er fortfuhr: »Sehen Sie sich diese Auswanderer an! An Bord befinden sich nicht nur Iren, sondern auch Russen, Polen, Rumänen und Italiener. Amerika ist zwar ein sehr großes Land, dennoch werden es immer mehr, die aus Europa kommen und denken, bei uns fließe Milch und Honig. Besonders die Iren haben in den letzten Jahrzehnten zu Hunderttausenden ihr Land verlassen. Es heißt, allein in New York leben mehr Iren als in Irland selbst.«
    »Sie halten nicht viel von den Iren?« Susan bemerkte den abfälligen Tonfall in Kingsleys Stimme, als er über die Iren sprach.
    Er zuckte die Schultern. »Ich kenne kaum jemanden aus dem Land, weiß aber, dass die Iren ein sehr streitlustiges Volk sind. Die Männer lassen gerne die Fäuste fliegen, besonders, wenn sie zu viel getrunken haben. Und dies tun sie nur zu gern. Erst kürzlich kam es in Dublin wieder zu einem Aufstand, bei dem viele Menschen getötet wurden. Ich bin Amerikaner und durchaus dafür, dass Männer für ihre Freiheit einstehen. Anstatt jedoch mit friedlichen Mitteln die Missstände in ihrem Land zu beseitigen, kennen die Iren nur eines: Gewalt! Oder sie wandern aus und erwarten, dass wir sie in unserem Land mit offenen Armen empfangen.«
    Susan war von Kingsleys Worten schmerzlich berührt. Sie wusste nicht viel über Irland und die dort herrschenden Probleme. In den Londoner Zeitungen wurden zwar hin und wieder Aufstände erwähnt, die britische Regierung habe diese jedoch im Griff. Zu ihrem Bekanntenkreis zählte niemand, der aus Irland stammte, und so hatte sie keinen Bezug zu dem Land und dessen Geschichte.
    »Es sind viele Auswanderer auf diesem Schiff, nicht wahr?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln. »Jemand sagte, die meisten hätten ihre letzten Pennys zusammengekratzt, um sich die Überfahrt leisten zu können.«
    Kingsley nickte. »Es sind doppelt so viele Passagiere in der dritten Klasse als in der ersten und zweiten zusammen an Bord. Dabei sind diese Menschen bereits zu sechst oder zu acht in Kabinen gepfercht, die gerade so groß sind wie unsere Badezimmer hier auf dem Schiff.«
    Susan hatte sich bisher keine Gedanken um die Menschen auf dem Zwischendeck gemacht, sondern war von ihrer eigenen Umgebung derart gefesselt, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass es auf diesem Schiff auch weniger komfortable Unterkünfte gab. Sie wusste, dass viele Menschen das alte Europa verließen, in der Hoffnung, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten schnell reich zu werden, hielt das jedoch für einen Traum. Arbeiten musste man überall, auch in Amerika würde niemandem etwas in den Schoß fallen. Sie sah wieder zum Deck hinunter, doch die Frau war verschwunden.
    Ein schriller Signalton rief zum Mittagessen, und Susan ließ sich von Kingsley in den Speisesaal begleiten. Nach dem Essen, das von zwangloser Plauderei mit den Mitreisenden begleitet war – zu Susans Bedauern war Daniel Draycott jedoch nicht anwesend –, erhielt Susan von Leonard Kingsley ihre erste Lektion. Er führte sie in einen hellen, luftigen Raum, der wie ein Wintergarten eingerichtet war und in dem die Damen und Herren zwanglos Tee tranken und den neuesten Klatsch austauschten. Sie setzten

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