Das Lied der Luege
Wohlwollen zu verdanken hatte, beschlich sie ein unangenehmes Gefühl. Jetzt war es jedoch zu spät. Sie war mitten auf dem Ozean, eine Rückkehr nach England war ohnehin nicht mehr möglich. Da war es gut, wenn sie vorher wusste, mit wem sie es bald zu tun haben würde. Somit hörte sie den weiteren Erläuterungen Kingsleys aufmerksam zu.
Susan fühlte sich in vielem an die englische Gesellschaft erinnert und erkannte, dass es auch in Amerika eine Schicht gab, in der der äußere Schein das Wichtigste war. Unwillkürlich fühlte sie sich von dieser Erkenntnis unangenehm berührt. Sie hatte gedacht, in New York würde es zwangloser und offener als in London zugehen. Kingsley machte ihr jedoch klar, dass sie, wenn sie am Broadway Erfolg haben wollte, auch außerhalb eine Rolle spielen musste, die Susans Charakter wenig gerecht wurde. Der einzige Unterschied zu England war jedoch, dass in Amerika nicht zählte, unter welchem Dach man geboren worden war, sondern dass ganz allein die Leistung, die man heute brachte, honoriert wurde.
»Ein Mädchen aus den ärmsten Verhältnissen kann durchaus in höchste Kreise aufsteigen, ohne dass jemand abfällig die Nase rümpft«, sagte Kingsley. »Solange sie sich untadelig verhält und sich den Konventionen der guten Gesellschaft fügt.«
Dies traf, was Susan anging, den Nagel auf den Kopf. In New York würde ihr niemand ihre Herkunft vorhalten, sollte jemand davon überhaupt erfahren. Susan war fest entschlossen, die Chance, die ihr dieses neue Leben bot, mit beiden Händen zu ergreifen und nicht wieder loszulassen.
Verwirrt von Kingsleys Erklärungen und ihren eigenen Gedanken, begab sich Susan auf das Promenadendeck. Der Ozean erstreckte sich blau und ruhig wie ein glatter Spiegel, so weit das Auge reichte, die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, lediglich der kühle Fahrtwind ließ Susan frösteln, und sie war froh, sich ein wärmendes Schultertuch über ihren Mantel gelegt zu haben. Um diese Zeit hatten sich viele Passagiere in ihre Kabinen zurückgezogen, um für das Dinner ausgeruht zu sein. Ein paar Kinder spielten auf der Steuerbordseite mit Springseilen und Holzkreiseln, in einer Sitzgruppe debattierten drei Herren über Politik, aber nur wenige Damen promenierten über das Deck. Susan ging zum Heck, von wo aus man einen Blick auf das darunterliegende Deck hatte, auf dem die Zwischendeckpassagiere Luft schnappen durften. Da sah sie wieder die Frau, die ihr am Mittag aufgefallen war. Sie stand jedoch nicht auf dem ihrer Klasse zugehörigen Deck, sondern an der Reling auf dem Promenadendeck. Offenbar war sie über die Absperrung, die die Klassen voneinander trennte, geklettert. Ihr Gesicht war unbewegt, sie hatte die Hände in den Taschen ihres viel zu dünnen Mantels vergraben, und der Fahrtwind zerrte an ihren rotblonden Haaren, auf denen sie weder Hut noch Mütze trug. Mit ausdrucksloser Miene starrte sie über das Deck, und erneut erkannte Susan in ihren Augen einen Ausdruck abgrundtiefer Verzweiflung und völliger Hoffnungslosigkeit. Einem inneren Impuls folgend, ging Susan auf sie zu und wollte sie ansprechen, als sich von links ein Steward näherte. Er sah die Frau und runzelte die Stirn. Mit einem Schritt war er neben ihr und griff nach ihrem Arm.
»Sie haben hier nichts zu suchen.« Seine Stimme war nicht unfreundlich, aber bestimmt. »Bitte begeben Sie sich sofort wieder auf Ihr Deck.«
»Ich möchte doch nur schauen …«
»Gehen Sie!« Der Steward zog sie in Richtung der Absperrung. »Sie haben auf dem Promenadendeck nichts zu suchen.«
»Das geht in Ordnung, Mister. Ich habe die Dame eingeladen, mit mir auf diesem Deck zu promenieren.« Spontan waren Susan diese Worte entschlüpft, und der Steward sah sie erstaunt an. An ihrer Kleidung erkannte er sofort, dass sie eine Passagierin der ersten Klasse war.
»Wenn das so ist …« Sein Blick ging zwischen Susan und der Fremden hin und her. »Ich habe meine Anweisung, keine Passagiere der dritten Klasse auf dieses Deck zu lassen. Die anderen Passagiere könnten sich beschweren.«
Mit der Hand deutete Susan über das Deck.
»Ich glaube nicht, dass es jemanden stört, Mister. Es sind ja kaum Reisende hier. Vielleicht wären Sie so freundlich, uns Tee zu bringen?« Sie sah den Steward mit einem entwaffnenden Lächeln an und wies auf zwei Liegestühle, die durch ein Vordach vor dem Wind geschützt an der Bordwand standen. »Wir möchten uns setzen, und ein heißer Tee wäre bei dem kühlen Wind
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