Das Lied der Luege
sich in eine ruhige Ecke, und Kingsley begann zu erläutern, wie sich Susan künftig zu verhalten habe.
»In erster Linie muss Ihr Ruf untadelig sein, Miss Peggy.«
Susan nickte. »Das ist selbstverständlich, Mr. Kingsley. Manche mögen zwar glauben, dass Schauspielerinnen mit Prostituierten gleichzusetzen sind, jedoch …«
»Pst!« Kingsley legte einen Finger auf die Lippen und sah Susan eindringlich an. »Dieses Wort oder ein ähnliches dürfen Sie niemals in den Mund nehmen. Von einer Dame erwartet man, dass diese nicht einmal weiß, dass es solche Frauen gibt.«
»Jeder weiß darüber Bescheid, doch niemand spricht darüber, nicht wahr? Nun, was ich sagen wollte, war, dass es zwar Frauen meines Berufsstandes gibt, die es mit der Moral nicht so genau nehmen, dass ich jedoch nicht dazu zähle.«
»Das ist mir bekannt, ansonsten würde ich es niemals wagen, Sie an den Broadway zu holen.«
Susan schluckte und hoffte, Kingsley würde die leichte Röte, die bei seinen Worten über ihre Wangen flog, nicht bemerken. Sie dachte an Ronald und Charles und an die ausschweifenden Feste, auf denen sie Alkohol in Mengen getrunken und Rauschgift zu sich genommen hatte. Was Kingsley wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass sie auf dem Papier immer noch verheiratet war, von einem anderen Mann ein Kind zur Welt gebracht und dieses regelrecht verkauft hatte? Nun, dies alles lag hinter ihr, und niemand würde jemals die Wahrheit erfahren. Das Engagement in New York war für Susan das Sprungbrett in ein neues Leben, das sie nutzen wollte.
In der folgenden Stunde erklärte Kingsley ihr, wie sie mit amerikanischen Damen zu sprechen und wie sie sich gegenüber den Herren zu verhalten habe.
»Sie werden in einer Pension unweit des Theaters wohnen«, sagte Kingsley. »Mrs. Ross, die Wirtin, führt ein sehr gutes Haus, in dem alle unsere ledigen Akteurinnen untergebracht sind. Sie achtet sehr auf die Einhaltung guter Sitten. Herrenbesuche sind natürlich keine erlaubt, auch nicht in den Nachmittagsstunden.«
Susan hoffte, er würde ihr jetzt etwas über die Rolle, die sie spielen sollte, erzählen, und fragte: »Haben Sie das Textbuch dabei?«
»Textbuch?« Er runzelte die Stirn. »Von welchem Textbuch sprechen Sie?«
»Na, das von dem Stück, in dem ich auftreten soll. Ich könnte mich während der Überfahrt bereits auf die Rolle vorbereiten.«
Erneut tätschelte Kingsley ihre Hand, was Susan unangenehm berührte, denn er kam ihr oft viel zu nahe. Auf der einen Seite predigte er Moral und Sittsamkeit, andererseits ließ er sich keine Gelegenheit entgehen, sie zu berühren.
»Miss Peggy, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Den Text werden Sie sehr schnell lernen. Viel wichtiger ist, dass Sie einen guten Eindruck auf Nathan Schneyder machen, wenn er uns in New York am Kai erwartet.«
In Susan stieg eine Ahnung hoch.
»Sie haben ihm doch telegrafiert, dass nicht Miss Montoya, sondern ich Sie nach New York begleite?«
»Ähm … nun also, zuerst wollte ich wirklich ein Telegramm schicken, dachte dann jedoch, es wäre besser, Nathan vor vollendete Tatsachen zu stellen.« Kingsley sah die Unmutsfalte über Susans Nasenwurzel und fuhr rasch fort: »Ich bin sicher, er wird Ihrem Charme ebenso schnell erliegen, wie ich es tat.«
Susan durchschaute Kingsleys Beweggründe. Sie sagte mit einem bitteren Unterton in der Stimme: »Sie haben genau gewusst, dass Mr. Schneyder niemals die Passage erster Klasse bezahlen würde, hätte er gewusst, dass nicht der Star, den er persönlich eingekauft hat, sondern stattdessen nur die Zweitbesetzung auf dem Weg nach New York ist. Haben Sie mich in noch mehr Punkten getäuscht, Mr. Kingsley?«
Als er erneut nach ihrer Hand greifen wollte, zog Susan diese schnell zurück. Sie wollte aufstehen und gehen, Kingsley bat sie jedoch zu bleiben.
»Es tut mir leid, Miss Peggy, aber es ist nicht mehr zu ändern. Ich finde es wichtig, dass Sie bereits hier auf dem Schiff einen Eindruck von der Gesellschaft erhalten, in der Sie künftig verkehren werden, und ich bin sicher, Nathan wird meine eigenmächtige Entscheidung gutheißen. Ich werde ihm in den höchsten Tönen von Ihnen vorschwärmen.« Seine letzten Worte waren von einem vertraulichen Augenzwinkern begleitet.
Susan seufzte und lehnte sich in dem bequemen Korbsessel zurück. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie das Angebot nicht zu überstürzt angenommen hatte. Bei dem Gedanken, dass sie das Engagement ganz allein Kingsleys
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