Das Lied der Luege
Reverend erkannte ihn wieder.
»Mr. Draycott, in wenigen Minuten findet im Salon ein kleiner, aber feiner Liederabend statt. Wir werden verschiedene Kirchenlieder singen, wobei sich jeder sein Lieblingslied aussuchen kann. Möchten Sie und Ihre Begleitung uns nicht Gesellschaft leisten?«
»Es tut mir leid, aber ich bin sehr müde.« Susan verneinte rasch, nicht nur, weil sie sich wirklich nach ihrem Bett sehnte, sondern weil sie befürchtete, von Carter aufgefordert zu werden, zu singen. Kirchenlieder kannte sie nämlich keine, zumindest nicht die vollständigen Texte.
Daniel deutete eine Verbeugung an.
»Ich komme gerne, Mr. Carter.«
Der Reverend verabschiedete sich mit einem »Dann bis gleich«, und Daniel führte Susan zu ihrer Kabine. Vor der Tür zögerte er, und Susan hoffte, er würde sie erneut küssen, doch er nickte nur kurz und lächelte ihr zu.
»Bis morgen, Peggy.«
In ihrer Kabine vergewisserte sich Susan zuerst, ob die Zwischentür zu Kingsleys Kabine verschlossen war, dann zog sie sich langsam aus. Im Bett versuchte sie, sich auf das Buch, das sie sich aus der Bibliothek geholt hatte, zu konzentrieren, aber bereits nach wenigen Zeilen fielen ihr die Augen zu. Sie löschte die Lampe und war binnen weniger Minuten eingeschlafen.
Sie wusste nicht, was es war, das sie geweckt hatte. In der Kabine war es dunkel, und Susan meinte, ein leises Geräusch zu hören. Sie brauchte einen Moment, bis sie erkannte, dass jemand atmete. Schnell tastete sie nach dem Lichtschalter und knipste die Lampe an. Vor ihrem Bett stand Leonard Kingsley. Er trug einen Smoking, den Kragen ebenso wie die Fliege geöffnet, und in der Hand hielt er ein halb gefülltes Whiskyglas mit Eiswürfeln. Susan fuhr hoch und presste instinktiv die Decke an ihren Körper.
»Verlassen Sie meine Kabine, aber sofort«, rief sie. »Wie kommen Sie überhaupt hier herein? Ich hatte die Tür doch abgeschlossen.«
Kingsley grinste, und als er sprach, war deutlich zu hören, dass er betrunken war.
»Du vergisst, dass auf meiner Seite auch ein Schlüssel steckt.« Er streckte die Hand nach Susan aus. »Jetzt zier dich nicht länger. So gut wie dieser Anwalt werde ich es dir schon lange besorgen.«
Da Kingsley schwankte, konnte Susan seinem Griff entkommen und aus dem Bett springen. Sie wollte zu der Klingel, mit der man einen Steward rufen konnte. Allerdings befand sich diese an der gegenüberliegenden Wand, und sie musste dazu an Kingsley vorbei. Es gelang ihm, sie am Arm zu packen und sie aufzuhalten. Sein Griff war eisenhart, und Susan spürte seine Nägel durch das dünne Nachthemd.
»Verschwinden Sie, sonst schreie ich das ganze Schiff zusammen!«
Kingsley schüttelte nur den Kopf. Er stellte das Whiskyglas auf einen Tisch und griff mit der freien Hand nach Susans Schulter. Unwillkürlich fiel Susans Blick auf die auf der Kommode stehende Uhr. Später erinnerte sie sich, wie sich die Uhrzeit fest in ihr Gedächtnis einbrannte – es war acht Minuten nach halb zwölf.
»Meinst wohl, weil du dir einen Anwalt geangelt hast, ich hätte Angst vor diesem Schnösel.« Er lachte gackernd. »Wenn ich mit dir fertig bin, wird dieser saubere Herr dir keinen Blick mehr schenken.«
Panik stieg in Susan auf. Die Wände der Kabine waren dick, und zudem war es fraglich, ob sich gerade jetzt jemand auf dem Korridor befand, der sie hören könnte. Trotzdem öffnete sie den Mund und schrie, so laut sie konnte: »Hilfe! Bitte helfen Sie mir!«
Kingsley riss sie grob zu sich heran, und bevor sie etwas tun konnte, presste sich sein Mund auf ihre Lippen, während seine Arme ihren Körper wie in einem Schraubstock umklammert hielten. Sie roch seinen schlechten Alkoholatem und musste würgen. Verzweifelt versuchte sie, Kingsley mit dem Knie an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen, doch er schien damit gerechnet zu haben und wich geschickt aus. Obwohl er betrunken war, konnte er seine Reaktionen noch koordinieren. Mit der Zunge versuchte er, Susans Lippen zu öffnen. Für einen Augenblick gab Susan nach, dann biss sie kräftig zu. Mit einem Schmerzenslaut fuhr Kingsley zurück, ließ sie jedoch nicht aus seiner Umklammerung entkommen. Blut floss über seine Lippen, und seine Augen funkelten voller Hass.
»Das wirst du mir büßen, du Miststück!« Er holte so schnell aus, dass Susan nicht mehr ausweichen konnte und von seiner Faust mitten ins Gesicht getroffen wurde. Benommen und bemüht, nicht das Bewusstsein zu verlieren, stürzte sie zu
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