Das Lied der Luege
starrten hinauf zu den mächtigen Schornsteinen, aus denen weißer, dicker Dampf aufstieg.
»Was ist das?«, fragte eine ängstliche Frau und lehnte sich zitternd an ihren Ehemann.
»Keine Ahnung. Es ist jedoch völlig natürlich, wenn eine Dampfmaschine Dampf ablässt. Vielleicht hat das Schiff auch einen Motorschaden, und um diesen zu beheben, müssen die Kessel geleert werden.«
Susan mischte sich nicht in die Gespräche ein. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf durcheinander, denn sie spürte, dass mehr geschehen sein musste, als die Menschen hier an Bord glaubten. Deutlich stand ihr der besorgte Gesichtsausdruck des Schiffkonstrukteurs Andrews vor Augen, der vorhin an ihr vorbeigeeilt war. Sie musste Daniel finden! Er würde Genaueres wissen. Sie beschloss, erneut an seiner Kabine zu klopfen, vielleicht schlief er tatsächlich und hatte von alledem nichts mitbekommen.
Auf dem Weg zu den Kabinen begegneten ihr immer mehr Frauen, Männer und Kinder. Die meisten trugen Schwimmwesten, und Susan durchlief ein Schauer, der nicht von der Kälte kam. Ein Steward hielt sie kurz auf und sagte: »Bitte gehen Sie in Ihre Kabine, und legen Sie Ihre Schwimmweste an, Madam. Und auch warme Kleidung, denn es ist sehr kalt heute Nacht. Dann begeben Sie sich bitte wieder an Deck.«
»Was ist denn geschehen?« Susans Stimme zitterte leicht.
Der Steward zuckte mit den Schultern. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme, kein Grund zur Beunruhigung, Madam. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden?«
Sacht schob er sie zur Seite und eilte zu anderen Passagieren, die noch keine Schwimmwesten trugen, um seine Worte zu wiederholen.
Susans Hände zitterten so sehr, dass sie drei Versuche brauchte, bis sie ihre Kabinentür aufgeschlossen hatte. Für einen Moment befürchtete sie, Kingsley anzutreffen, doch ihre Kabine war leer. Sie ließ sich in einen Sessel sinken und schlug die Hände vors Gesicht. Plötzlich war ihr bewusst, dass sie das Engagement am
Pigeon-Theatre
nicht würde annehmen können. Sie war zwar überzeugt, der Intendant wusste nichts von dem ungebührlichen Verhalten seines Assistenten, dennoch würde sie Kingsley nicht dauerhaft aus dem Weg gehen können, und dieser würde alles daransetzen, ihr das Leben schwerzumachen. Und dann war da noch ihr Sohn … Sie war sicher, Paul und Jimmy hielten sich irgendwo in England auf. Wie konnte sie am anderen Ende der Welt auf eine Karriere hoffen, wenn ihr Kind vielleicht litt?
»Daniel, wo bist du?«, flüsterte sie. Der junge Anwalt erschien ihr wie ein Rettungsanker, und sie stellte fest, dass sie keineswegs so stark war, wie sie bisher geglaubt hatte. Seit sie vor Jahren erfahren hatte, dass sie von ihrem ehemaligen Vermieter ein Kind unter ihrem Herzen trug, hatte sie keine Angst mehr vor der Zukunft gehabt und gemeint, schlimmer könnte es nicht mehr kommen. Jetzt jedoch fühlte sie sich hilflos wie ein kleines Kind.
Ihr Blick fiel auf die Uhr. Es war kurz vor halb eins, auf dem Gang vor ihrer Kabine herrschte jedoch ein Tumult, als hätte das Signal gerade zum Dinner gerufen. Susan zog ihr Abendkleid aus und wählte ein einfaches Hauskleid aus einem dickeren Wollstoff, darüber legte sie ein Schultertuch und schlüpfte in ihren wärmsten Mantel. Dann suchte sie die Schwimmweste, die sie erst nach einigen Minuten in einem der Wandschränke fand. Mit der Schnürung der Weste kam sie jedoch nicht zurecht, darum warf sie sich die Weste nur locker über und steckte ihre Börse in die Manteltasche. Viel Geld war nicht darin, ihr restliches Barvermögen lag im Safe beim Zahlmeister. Erneut flammte Zorn in ihr auf. Kingsley würde es nicht wagen, sie um ihr Geld zu bringen! Dafür würde sie sorgen. Als sie die Kabine verließ, fiel ihr Blick in den Spiegel. Ihre linke Wange, die Kingsleys Faust getroffen hatte, war rot und geschwollen, Schmerz empfand sie jedoch kaum. Die Ereignisse, die seitdem geschehen waren, drängten alles andere in den Hintergrund.
Immer mehr Menschen strömten auf die Decks, so dass Susan Mühe hatte, sich ihren Weg zu bahnen. Offenbar waren alle Passagiere aufgefordert worden, ihre Kabinen zu verlassen. Zwar sprachen alle durcheinander und fragten sich, was der Sinn und Zweck dieser nächtlichen Aufregung war, es war jedoch weder Angst noch Panik zu bemerken. Susan überlegte, wie sie in diesem Gewimmel Daniel finden sollte. In der Nähe der Turnhalle auf dem Bootsdeck entdeckte sie Molly Brown. Die Dame trug ebenfalls einen warmen Mantel und hatte
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