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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Wahlurnen schreiten, sondern uns auch für politische Ämter aufstellen lassen dürfen.«
    »Sie scherzen, Mrs. Brown.« Der Herr schüttelte lachend den Kopf und blickte in die Runde. »Dass Frauen das Recht zu wählen erhalten sollten, ist eine Sache, sich aber selbst wählen zu lassen, ist doch eine völlig abwegige Vorstellung.«
    »Keineswegs.« Molly Brown betrachtete den Herrn mit einem kühlen Blick. »Warum sollte eine Frau nicht ein Land regieren? Betrachtet man die europäische Geschichte, so waren es stets Frauen, die den Ländern Wohlstand und vor allen Dingen Frieden gebracht haben.«
    »Ganz richtig, ich stimme Mrs. Brown zu.« Zu Susans Überraschung ergriff Daniel das Wort. »In England regierten die großen Königinnen Elisabeth und Victoria, nach denen sogar die entsprechenden Epochen benannt wurden, und keiner wagt zu bezweifeln, dass unter Königin Victoria das Land führend in der Welt geworden ist.«
    »Die Königin hatte einen Stab männlicher Berater an ihrer Seite«, erinnerte der skeptische Herr. »Ohne männliche Hilfe wäre die Königin sang- und klanglos untergegangen.«
    »Was ist mit Katharina der Großen und mit Maria Theresia?«, fuhr Daniel fort. »Wollen Sie die Macht und den Einfluss dieser Frauen etwa auch schmälern?«
    »Oh, bitte, keine politischen Diskussionen während des Essens.« Zum ersten Mal sprach eine junge Dame, die bisher schweigend der Unterhaltung gefolgt war. »Die Herren können später im Rauchsalon politisieren, in Anwesenheit von Damen sollten wir uns jedoch erbaulicheren Themen zuwenden.«
    Der Herr mit dem Schnurrbart warf Molly Brown einen triumphierenden Blick zu.
    »Da sehen Sie es, Mrs. Brown, es gibt noch Damen, die wissen, wo ihr Platz auf dieser Welt ist.« Lachend schlug er sich auf die Schenkel und ließ seinen Blick über die Runde schweifen. »Wobei die Vorstellung, wir würden eines Tages eine Frau als Präsidentin der Vereinigten Staaten haben, einen gewissen Reiz hat. Wir wissen jedoch alle, dass dies niemals der Fall sein wird, ebenso wenig wie jemals ein Schwarzer zum Präsidenten gewählt wird. Sollte das geschehen, dann ist es um unser Land schlecht bestellt.«
    Zwei Herren hoben ihre Gläser.
    »Wir sollten darauf trinken, dass dies wohl der beste Witz ist, den ich während dieser Reise gehört habe«, sagte der eine. »Ein schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten ist wohl noch weniger vorstellbar als eine Frau an der Spitze.«
    Dieser Aussage verschloss sich auch Molly Brown nicht und stimmte in das allgemeine Gelächter ein. Sie war zwar nicht rassistisch, die Trennung zwischen Schwarz und Weiß jedoch war auch in ihren Augen unaufhebbar, obgleich die Schwarzen immer mehr Rechte erhielten.
    Susan und Daniel tauschten einen Blick, und Daniel erhob sich.
    »Wenn Sie uns bitte entschuldigen möchten? Auf den Nachtisch werde ich heute verzichten.«
    Susan war froh, als er sie aus dem Saal führte. Obwohl sie den Gesprächen aufmerksam gelauscht hatte, hatte sie sich bei der Diskussion unwohl gefühlt und nicht gewagt, ihre Meinung zu äußern. Außer ihr waren alle am Tisch Amerikaner gewesen, da fand sie es als Ausländerin unpassend, sich zu politischen Themen zu äußern. Trotz der frostigen Temperatur gingen sie auf das Promenadendeck. Der Himmel war wolkenlos und sternenklar, wegen des Neumondes aber auch dunkel. Die Kälte schnitt Susan wie ein Messer ins Gesicht, und unwillkürlich zog sie fröstelnd die Schultern zusammen.
    »Dir ist kalt«, stellte Daniel sogleich fest. »Wir sollten besser wieder hineingehen.«
    Susan schüttelte den Kopf. »Ich möchte noch ein paar Minuten frische Luft schnappen und mich dann zurückziehen. In der letzten Nacht habe ich kaum geschlafen und bin sehr müde.«
    Sie traten an die Reling und blickten auf das Meer, das dunkel und beinahe bewegungslos viele Meter unter ihnen lag. Nun fiel Susan auf, dass kein Wind wehte, lediglich den leichten Luftstrom, der von der Fahrt des Schiffes herrührte, spürte sie auf ihrem Gesicht.
    »Begleitest du mich zu meiner Kabine?«, fragte Susan und zog den Mantel enger um ihre Schultern. »Ich meine, bis zur Tür«, fügte sie schnell hinzu.
    Daniel lächelte. »Etwas anderes hätte ich nicht angenommen.«
    Als sie durch die Halle zu der Treppe gingen, die auf das B-Deck hinunterführte, begegnete ihnen Reverend Carter, der die Morgenandacht gehalten hatte. Daniel hatte am Tag zuvor ein paar Worte mit dem freundlichen, älteren Herrn gewechselt, und der

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