Das Lied der Luege
Boden und sah voller Entsetzen, wie sich Kingsley an seinem Hosenbund zu schaffen machte. Panisch überlegte sie, was sie tun sollte, als plötzlich ein Ruck durch das Schiff ging. Dieser war nicht heftig, da sie jedoch daran gewöhnt war, außer einer leichten Vibration nichts von der Fahrt zu bemerken, war die Bewegung außergewöhnlich. Dann verstärkte sich die Vibration, und die noch nicht geschmolzenen Eiswürfel in dem Whiskyglas klirrten. Auch Kingsley hatte das ungewöhnliche Geräusch bemerkt und hielt in der Bewegung inne. Dies gab Susan die Zeit, so schnell wie möglich aufzustehen und die Klingel zu erreichen. Heftig drückte sie darauf und hoffte, ein Steward würde so schnell wie möglich kommen.
»Was, zum Teufel, ist das?« Kingsley sah sich unsicher um, als plötzlich das Vibrieren aufhörte und alles ruhig wurde. Zu ruhig, wie Susan feststellte, denn es war nicht mehr das geringste Motorengeräusch zu hören. »Haben wir gestoppt?«, sprach Kingsley ihre Gedanken aus.
»Gleich wird Hilfe da sein«, rief Susan und versuchte, an ihm vorbei zur Tür zu gelangen, doch da packte er sie erneut am Arm.
»Egal, warum das Schiff angehalten hat, mit dir bin ich noch nicht fertig …«
Es klopfte an der Tür, und Susan hätte einen Schrei der Erleichterung ausstoßen können. Eine männliche Stimme rief: »Sie haben geklingelt, Madam? Kein Grund zur Beunruhigung, das Schiff scheint nur seine Fahrt verlangsamt zu haben.«
Nun war Kingsley zwar betrunken, aber nicht so blau, um nicht zu erkennen, dass sein Vorhaben, Susan gewaltsam zu besitzen, gescheitert war. Vor der Tür stand ein Steward, der sofort, sollte Susan erneut um Hilfe schreien, mit seinem Nachschlüssel die Kabine öffnen und nachsehen würde. Er stieß Susan von sich und richtete seine Hose.
»Wir beide sind noch nicht miteinander fertig«, wiederholte er. »Ich bekomme schon noch das, was mir für meine Dienste, dich nach Amerika zu bringen, zusteht.«
Susan war nicht fähig, etwas zu sagen, starrte Kingsley nur stumm nach, als der durch die Verbindungstür in seine Kabine verschwand. Instinktiv schloss sie schnell hinter ihm ab und stellte einen Stuhl mit der Lehne vor die Tür, so dass die Klinke blockiert war. Sie zitterte am ganzen Körper, darum nahm sie Kingsleys Glas und trank den Whisky in einem Zug. Sie wusste, dass sie in dieser Nacht keine Ruhe mehr finden würde, daher kleidete sie sich an. Sie wollte jetzt nicht allein sein, sie musste mit jemandem sprechen. Obwohl es unschicklich war, ging Susan zu Daniels Kabine auf dem C-Deck. Glücklicherweise hatte er am Tag zuvor zufällig seine Kabinennummer genannt. Als sie um die Ecke in den Gang einbog, der zu der Treppe zum C-Deck führte, kam ihr Thomas Andrews entgegen. Er schien direkt aus dem Bett zu kommen, denn seine Haare waren ungekämmt, und der Kragen seines Hemdes war nachlässig geschlossen, obwohl ihn Susan zuvor immer nur äußerst korrekt gekleidet gesehen hatte. Unter dem Arm trug der mehrere Papierrollen. Andrews war für seine Freundlichkeit gegenüber den Passagieren bekannt, nun jedoch würdigte er Susan keines Blickes. Im Gegenteil, er stieß sie sogar leicht an, als er an ihr vorbeieilte. Es kam jedoch kein Wort der Entschuldigung über seine Lippen. Susan schien es, als habe Andrews ihre Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt.
Zwei Minuten später hatte Susan Daniels Kabine erreicht und klopfte.
»Daniel, bist du da? Wenn ja, bitte öffne. Ich bin es, Susan, es ist sehr wichtig.«
Hinter der Tür blieb jedoch alles ruhig. Inzwischen musste es kurz vor Mitternacht sein. Vielleicht schlief Daniel bereits so fest, dass er ihr Klopfen nicht hörte, oder er war noch gar nicht zu Bett gegangen. Susan erinnerte sich an den von Reverend Carter organisierten Liederabend. Wahrscheinlich war Daniel danach mit einigen Herren noch an die Bar gegangen.
Nur wenige Passagiere waren noch unterwegs, als Susan sich mit dem Fahrstuhl nach oben fahren ließ. Während sie den langen Gang entlanglief, der vom Heck zum Bug führte und durch den man zum Rauchsalon kam, hatte Susan das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen fiele leicht ab. Dies war ihr zuvor nie aufgefallen. Vielleicht war aber auch ihre seelische Verfassung schuld daran, dass sie meinte, das Schiff hätte eine leichte Schieflage. Im Rauchsalon befanden sich noch mehrere Herren beim Kartenspiel, sie konnte Daniel jedoch nirgends entdecken. Sie hielt einen vorübereilenden Steward an.
»Verzeihen Sie, Sir, ich
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