Das Lied der Luege
hatte Maurice von seiner Mutter wenig gesehen und die meiste Zeit in Internaten verbracht. Das wollte sie ihrem Sohn nicht antun.
In diesem Moment rief das Signal zum Abendessen, und Susan war froh, das Gespräch beenden zu können. Während Daniel sie in den Speisesaal führte, raunte er ihr zu: »Kämpfe um dein Kind, sonst wirst du es für den Rest deines Lebens bereuen.«
»Aber …«
Er lächelte und schüttelte den Kopf. Susan schwieg. Sie hatte Daniel unterschätzt, offenbar war er ein besserer Anwalt, als sie angenommen hatte. Jetzt wusste er, dass sie immer noch verheiratet und eine Rabenmutter war. Ein Stich fuhr in ihr Herz. Sie war überzeugt, von seinem Plan, sie seiner Familie vorzustellen, würde er nichts mehr wissen wollen. Trotzdem tat es Susan nicht leid, Daniel von Jimmy erzählt zu haben. Sie konnte und wollte ihren Sohn nicht länger verleugnen.
Im Speisesaal nahmen sie nicht an dem gewohnten Tisch Platz, an dem bereits Leonard Kingsley saß und sie wenig freundlich anstarrte. Sie fanden zwei freie Plätze an dem Tisch, an dem auch Margaret Brown saß. Susan freute sich, die Dame endlich näher kennenzulernen, auch aus dem Grund, weil Kingsley ihr den Umgang mit Molly Brown verboten hatte. Susans Blick glitt immer wieder zu Molly Brown, denn auf irgendeine Art und Weise faszinierte sie Susan. Sie war nicht schön im landläufigen Sinn, ihr Gesicht jedoch strahlte neben Wärme auch eine Entschlossenheit aus, die man selten fand. Während der Vorspeise dümpelte das Tischgespräch über belanglose Themen dahin. Eine Dame, die sich Susan nicht vorgestellt hatte, meinte, dass es furchtbar kalt geworden sei.
»Hoffentlich wird es morgen wieder etwas wärmer. Ich brauche täglich die Bewegung an Deck und frische Luft. Eine schreckliche Vorstellung, noch ganze zwei Tage im Schiff eingesperrt zu sein.«
Der neben ihr sitzende Herr lächelte und meinte: »Meine Liebe, die Titanic läuft auf allen Kesseln und macht zweiundzwanzig Knoten. Wir werden bestimmt schon am Dienstagmorgen, wenn nicht sogar am Montagabend in New York einlaufen.«
»Das habe ich auch gehört.« Ein anderer Herr nickte zustimmend. »Wobei ich es bedaure, dass die Reise so bald zu Ende sein wird. Wenn mich meine Geschäfte noch einmal nach Europa führen, dann fahre ich auf jeden Fall wieder mit der Titanic. Auf einem schöneren und besseren Schiff bin ich noch nie gereist.«
Der Hauptgang wurde serviert, Wein in die geschliffenen Kristallgläser nachgeschenkt, und für ein paar Minuten verstummte das Gespräch, da sich jeder seinen Speisen widmete. Dann blickte Molly Brown Susan über den Tisch hinweg an und fragte: »Sie sind doch die Sängerin, die uns gestern Abend unterhalten hat, nicht wahr?«
Susan hoffte, nicht zu erröten, und antwortete verlegen: »Ach, es war keine gute Idee, eine so erlesene Gesellschaft mit diesen einfachen Liedern unterhalten zu wollen.«
Molly Brown lachte. »Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel, meine Liebe. Sie haben eine hübsche Stimme, doch das Klientel auf diesem Kahn entspricht nicht gerade dem Publikum, das Sie sonst gewohnt sind. Ich hörte, Sie werden am Broadway auftreten?«
Susan nickte und verbarg nicht ihren Stolz.
»Man bietet mir als Engländerin diese einmalige Chance. Ich hoffe, ich werde den Erwartungen und Ansprüchen gerecht.«
»Das werden Sie, meine Liebe, das werden Sie ganz sicher.« Molly Brown zwinkerte ihr vertraulich zu, dann wechselte sie das Thema und sagte in die Runde: »Haben Sie es gehört? In Finnland hat zum ersten Mal eine Wahl stattgefunden, bei der Frauen wählen durften. Seit sechs Jahren hat dieses Land das Frauenwahlrecht eingeführt, da sind Länder wie unser gutes Amerika, aber auch England noch schrecklich rückständig.«
Der Herr rechts neben ihr lachte laut und zwirbelte mit zwei Fingern seinen Schnurrbart.
»Nun, meine liebe Mrs. Brown, Sie setzen ja alles daran, dies zu ändern. Haben Sie eigentlich auf Ihrer Europareise auch Ihre englische Mitstreiterin Mrs. Pankhurst getroffen?«
Als der Name fiel, zuckte Susan unmerklich zusammen und erinnerte sich erneut an die kurze Begegnung mit der Genannten. Offenbar war diese Emmeline Pankhurst ein immer wiederkehrendes Gesprächsthema.
»Leider nicht, meine Reise führte mich nicht nach England. Ich schrieb ihr jedoch einen langen Brief und ermunterte sie, treu und beständig an ihre Ziele zu glauben, denn eines Tages werden wir amerikanischen Frauen nicht nur zu den
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