Das Lied der Luege
suche Mister Daniel Draycott. Haben Sie ihn irgendwo gesehen?«
Der Steward zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ich kann mich an den Herrn nicht erinnern.«
Susan seufzte und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Wahrscheinlich war es das Beste, in ihre Kabine zurückzugehen und zu versuchen, wenigstens ein paar Stunden zu schlafen. Sie war sicher, in dieser Nacht würde Kingsley keinen weiteren Versuch einer Annäherung unternehmen. Sie konnte noch die Kommode vor die Verbindungstür schieben, so dass ihm der Zugang zu ihrer Kabine verwehrt war. Sie überlegte, ob es überhaupt sinnvoll war, Daniel von Kingsleys Belästigung zu erzählen, denn sie traute Daniel durchaus zu, Kingsley zu verprügeln. Gäbe es noch Duelle, wäre Daniel zu einem solchen durchaus in der Lage. Dies würde jedoch die Aufmerksamkeit der Passagiere nur unnötig auf sie ziehen, und das wollte Susan unter allen Umständen vermeiden.
»Auf was habe ich mich nur eingelassen?«, murmelte Susan. Sie wünschte sich, in London sein und mit Doro ein Glas Rotwein trinken zu können. Nein, Esperanzas Krankheit und die Reise nach New York in eine vermeintlich glänzende Zukunft hatten ihr bisher kein Glück gebracht.
Du vergisst Daniel, mahnte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf. Ohne dies alles wärst du ihm nie begegnet.
Vielleicht wäre das auch besser gewesen, antwortete Susan stumm dieser Stimme. Daniel löste in ihr Gefühle aus, die sie für immer und ewig begraben glaubte.
Während Susan auf der Suche nach Daniel durch das Schiff irrte, kamen immer mehr Passagiere aus ihren Kabinen und eilten an Deck. Offenbar hatten sie auch mitbekommen, dass die
Titanic
an Fahrt verloren hatte. Als Susan auf der Backbordseite ins Freie trat, bemerkte sie erneut, wie kalt es geworden war. In ihrer Aufregung hatte sich Susan nur schnell ihr dünnes Abendkleid übergezogen, aber weder Mantel, Hut noch Handschuhe mitgenommen. Auf dem Deck standen einige Gruppen von Menschen, die heftig miteinander diskutierten. Die
Titanic
hatte tatsächlich die Motoren gestoppt. Bewegungslos und ruhig, nicht einmal den Schwingungen der Dünung folgend, lag sie auf dem spiegelglatten Meer, das fast einem Binnengewässer glich. Plötzlich kam ein halbwüchsiger Junge zu einem Paar, offenbar seine Eltern, gelaufen und rief aufgeregt: »Kommt mit, das müsst ihr euch ansehen!«
Nicht nur Susan folgte dem Jungen zum Bug des Schiffes, von wo man auf das darunterliegende Deck sehen konnte. Dieses war über und über mit Eisklumpen bedeckt, manche so groß wie Fußbälle. Jungen, aber auch einige erwachsene Männer, hatten dies entdeckt und machten sich einen Spaß daraus, mit den Eisklumpen Fußball zu spielen. Sie lachten und schrien laut durcheinander. Susan vergaß die schneidende Kälte und musste ebenfalls schmunzeln. In ihrer Nähe hörte sie einen Herrn sagen: »Wir haben offenbar einen Eisberg gestreift.«
»Wo?« Sofort drängten sich die Leute um den Herrn, der nach rechts hinten deutete.
»Ich hörte, das Schiff wäre mit der Steuerbordseite haarscharf an dem Eisberg vorbeigeschrammt. Irgendwo dahinten.«
Susan beugte sich über die Reling und blickte in die angezeigte Richtung. Es war jedoch so dunkel, dass man nur wenige Meter weit sehen konnte.
»Wurde das Schiff beschädigt?« Der ängstliche Unterton in der Stimme einer Dame war unüberhörbar.
»Keine Sorge, Madam, selbst wenn – die Titanic ist ein starkes Schiff. Vielleicht werden einige Reparaturarbeiten nötig sein.«
»Oje, oje«, jammerte eine andere Frau. »Hoffentlich verzögert sich dadurch nicht unsere Ankunft in New York. Unser erster Enkel wird nämlich am Donnerstag getauft, und mein Gatte und ich müssen unbedingt dabei sein.«
»Nun, da wir in den letzten Tagen eine schnellere Fahrt als vorgesehen gemacht haben, wird dieser kleine Aufenthalt hier vielleicht ein paar Stunden dauern, wenn überhaupt.« Ein Herr in Frack und Zylinder zog eine Zigarre aus der Innentasche seiner Jacke und zündete sie an. Nachdem er genüsslich eine Weile geraucht hatte, fuhr er fort: »Außerdem ist es gar nicht gesagt, dass das Schiff tatsächlich beschädigt wurde. Ich denke vielmehr, der Captain hat stoppen lassen, um die Navigation zu überprüfen. Immerhin soll es in diesen Gewässern von Eisbergen nur so wimmeln.«
In diesem Moment ertönte ein so lautes Geräusch, als würden zwanzig Lokomotiven in einer niedrigen Halle gleichzeitig ihren Dampf ablassen. Die Leute zuckten zusammen und
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