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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Klarmachen der Rettungsboote. Die Ersten waren bereits abgefiert worden und dümpelten auf dem ruhigen Wasser. Um Susan herum befanden sich ausnahmslos Passagiere der ersten Klasse, die ihrer Erziehung nach keine Angst zeigten, sondern sich unterhielten, als handle es sich um den Ausflug zu einer Landpartie. Auch Molly Brown und ihre Begleiterinnen warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.
    »Frauen und Kinder für Rettungsboot sechs«, rief der Offizier und winkte ihnen, vorzutreten. Einige Frauen stiegen ein, dann war Molly Brown an der Reihe. Als sie im Boot Platz genommen hatte, winkte sie Susan.
    »Nun kommen Sie schon.«
    Susan zögerte, trat dann einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf.
    »Ich muss Mr. Draycott finden«, rief sie. »Ich werde ein anderes Boot nehmen.«
    »Aber Miss Peggy …« Der Rest von Molly Browns Worten ging in dem Befehl zum Abfieren des Bootes durch den Offizier unter. Susan drehte sich um und drängte sich zwischen den Menschen hindurch zurück. Dabei sah sie sich immer wieder um. Molly Brown hatte recht – das hier war ein Schiff, Daniel musste irgendwo zu finden sein. Der Gedanke, er hätte bereits ein Rettungsboot bestiegen und das Schiff verlassen, kam Susan nicht.

22. Kapitel
    D aniel Draycott irrte auf der Suche nach Susan ebenfalls durch das Schiff. Nach dem Liederabend, der gegen zweiundzwanzig Uhr beendet war, war Daniel im Rauchsalon gewesen, hatte dort ein paar Drinks zu sich genommen und war dann, um wieder einen freien Kopf zu bekommen, auf Deck gegangen. Die kalte Nachtluft hatte ihn nicht gestört, denn er hatte über Susan nachgedacht. In seinem Leben hatte es schon ein paar Frauen gegeben – er war schließlich kein Mönch –, darunter war aber keine gewesen, bei der er den Wunsch zu heiraten verspürt hatte. Mit einer Ehe hatte es Daniel nicht eilig, obwohl er im Mai seinen fünfunddreißigsten Geburtstag feiern würde. Sein älterer Bruder hatte bereits zwei Söhne, somit war die Nachfolge der Familie Draycott gesichert, und seine Eltern drängten ihn nicht zu einer Ehe. Einer Frau wie Peggy Sue war Daniel noch nie zuvor begegnet. Vielleicht lag es daran, dass sie Engländerin und dazu noch Schauspielerin war. Nach außen gab sie sich kühl und beherrscht, doch immer wieder flammte unter dieser Oberfläche ein Funke auf, der Daniel vermuten ließ, dass Peggy Sue eine durch und durch leidenschaftliche Frau war. Die Geschichte von ihrer angeblichen Freundin, die ihren Sohn verloren hatte, glaubte Daniel nicht. Er hatte sofort gespürt, dass es Peggys eigenes Schicksal war. Dies stimmte ihn nachdenklich. Nicht, dass Peggy bereits ein Kind hatte, nein, wenn es jedoch stimmte, was sie sagte, dann war sie verheiratet, auch wenn sie schon lange von ihrem Mann getrennt lebte und zu diesem keinen Kontakt mehr hatte. Er würde mit ihr darüber sprechen müssen. Eine Scheidung war heutzutage kein Problem. Selbst wenn seine Eltern die Nase rümpfen würden, wenn er eine geschiedene Frau heiraten wollte – er war schließlich alt genug, um selbst über sein Leben zu entscheiden. Das größere Problem war Peggy selbst. Obwohl er meinte, sie würde ebenso empfinden wie er und ihm das durch Blicke und kleine, unbewusste Gesten zeigte, hatte sie ihn abgewiesen. Daniel war sich jedoch sicher, dass dies nur aufgrund ihrer Vergangenheit geschah. Nun, er würde nicht lockerlassen, und irgendwann würde Peggy sich ihm anvertrauen.
    »Peggy Sue …« Leise sprach Daniel den Namen aus. War das überhaupt ihr richtiger Name, oder handelte es sich um einen Künstlernamen? Er musste sie bei nächster Gelegenheit danach fragen.
    Über diesen Überlegungen hatte Daniel die Zeit vergessen und wurde plötzlich durch einen lauten Ruf, der aus dem Krähennest kam, aus seinen Gedanken gerissen.
    »Eisberg voraus! Mein Gott, der ist riesig!«
    Daniel schaute zum Bug und erkannte das große, schattenhafte Gebilde, auf das die
Titanic
unweigerlich zuhielt. Wie gebannt, unfähig, sich zu rühren, blieb er stehen und erwartete jeden Moment den Aufprall. Dann jedoch drehte das Schiff nach links ab, und sie fuhren so dicht an dem Eisberg vorbei, dass Daniel nur seine Hand hätte ausstrecken müssen, um diesen berühren zu können. Unter seinen Füßen spürte er, wie das Schiff erzitterte, und unwillkürlich wusste er, dass die
Titanic
das Hindernis gerammt hatte. Es dauerte noch einige Minuten, bis er sich so weit gefangen hatte, ins Schiffsinnere und direkt zu Susans Kabine zu

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