Das Lied der Luege
eine Handbreit daran vorbei ins Wasser. Der Aufprall war hart und schmerzhaft, und Susan versank in den Fluten des Ozeans. Verzweifelt schlug sie um sich. Das eiskalte Wasser drang wie tausend spitze Nadeln durch ihre Kleidung, und sie dachte, jeden Moment würde ihr Herz stillstehen und ihre Lungen platzen. Dann endlich tauchte sie auf und schnappte hektisch nach Luft.
»Schwimm!« Wie aus weiter Ferne hörte sie Daniels Stimme. »Wenn du schwimmen kannst, dann schwimm so schnell wie möglich weg von dem Schiff!«
Automatisch bewegte Susan ihre Arme und Beine, obwohl sie meinte, durch die Kälte des Wassers gelähmt zu sein. Unwillkürlich dachte sie an den Abend, als sie Lavinia Callington das Leben gerettet hatte. Wenn sie nicht hätte schwimmen können, wäre sie damals nie auf die Idee gekommen, in die Themse zu springen. Dann wäre ihr Leben anders verlaufen, und sie wäre niemals auf die
Titanic
gekommen. Wenn, wäre und hätte … Es war nun mal geschehen. Während sie versuchte, sich von dem Schiff, auf dem die Schreie der Menschen immer lauter und schriller wurden, zu entfernen, war es, als zöge ihr bisheriges Leben an ihr vorbei. Sie sah sich als Kind in den Fischhallen von Billingsgate, ihren ständig betrunkenen Vater und die Mutter, die ebenfalls zusehends dem Alkohol verfiel. Vor ihrem geistigen Auge tauchte Paul auf, und sie erinnerte sich an ihre erste gemeinsame Zeit, in der sie meinte, glücklich zu sein. Sie spürte den Schmerz, den sie beim Verlust ihres ersten Kindes gespürt, aber auch die Wärme, als man ihr Jimmy in den Arm gelegt hatte. Jimmys Gesicht vermischte sich mit dem von Anabell, und sie meinte, Daniels Stimme zu hören: »Wenn deiner Freundin ihr Kind wirklich wichtig ist, dann muss sie mit allen Mitteln darum kämpfen. Es gibt immer einen Weg, wenn man etwas ernsthaft will …«
Ihr war so kalt, so schrecklich kalt, dennoch bewegte sie weiter ihre Arme und Beine und entfernte sich von dem Schiff. Plötzlich tauchte vor ihr der Rumpf eines Bootes auf. Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte und schrie: »Hallo! Hilfe!«
»Da schwimmt jemand! Na los, wir müssen näher ran.«
Ein Ruder wurde über die Bordwand gelegt, und Susan klammerte sich daran fest. Helfende Hände griffen nach ihr, und sie wurde an Bord gezogen. Nach Luft schnappend und am ganzen Körper zitternd, lag sie auf dem Boden. Jemand schlug ihr leicht ins Gesicht.
»Na los, machen Sie die Augen auf.«
Langsam richtete Susan sich auf und sah sich um. Sie kannte niemanden in diesem Boot, das vor allem von Frauen, aber auch von einigen Männern, fast ausschließlich von Besatzungsmitgliedern, besetzt war. Niemand sprach ein Wort, in den Gesichtern jedes Einzelnen stand der Ausdruck von Fassungslosigkeit, gepaart mit einer namenlosen Angst. Sie hatten es zwar geschafft, das sinkende Schiff zu verlassen, doch war das keine Garantie dafür, zu überleben. Sie befanden sich mitten auf dem Nordatlantik, Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Meilen vom nächsten Festland entfernt, und es war eiskalt. Auch hatten sie weder Wasser noch Proviant an Bord. Wenn nicht ein anderes Schiff kam, das sie aufnahm, würde ihr Tod nur noch eine Frage der Zeit sein.
Nach einigen Minuten hatte Susan sich so weit erholt, dass sie sich auf eine Bank setzen konnte. Gemeinsam mit den anderen Geretteten starrte sie zur Titanic hinüber oder vielmehr zu dem, was von dem einstigen Stolz der Ozeane noch zu sehen war.
Was sie sahen, war so unglaublich, dass Susan auch noch Jahre später meinte, nur einen unrealistischen Alptraum erlebt zu haben. Noch immer brannten alle Lichter auf der
Titanic
. Selbst unter Wasser schimmerte das Licht durch die Bullaugen der Kabinen, die längst unter dem Meeresspiegel lagen. Die Männer ruderten das Boot immer weiter vom Schiff weg, denn sie hatten Angst, von dem Sog, der unweigerlich entstand, wenn die
Titanic
versank, mit in die Tiefe gerissen zu werden. Als Landratte fiel es Susan schwer, die Entfernung einzuschätzen, sie glaubte jedoch, sich ungefähr eineinhalb Meilen vom Schiff entfernt zu befinden. Alle im Boot schwiegen, außer stoßweisem Atmen war nichts zu hören, als der Bug der
Titanic
unter Wasser gezogen wurde und sich das ganze Schiff aufrichtete, bis es vertikal in die Höhe ragte. Die
Titanic
verharrte völlig bewegungslos. Dann erlöschten plötzlich auf einen Schlag alle Lichter, und es gab einen unbeschreiblichen Lärm, wie ihn Susan nie zuvor gehört hatte und auch nie wieder
Weitere Kostenlose Bücher