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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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eilen. Wahrscheinlich schlief sie schon, er wollte sie dennoch wecken, denn die Sache mit dem Eisberg machte ihm Sorgen. Auf sein Klopfen hin regte sich nichts in ihrer Kabine. Vielleicht war sie an Deck gegangen, so wie zahlreiche andere Passagiere ebenfalls, die die Kollision bemerkt hatten.
    In der folgenden Stunde durchkämmte Daniel das Schiff, nicht wissend, dass Susan ebenfalls auf der Suche nach ihm war, aber sie verfehlten sich immer wieder. Schließlich wurde auch er aufgefordert, sich eine Schwimmweste anzuziehen und sich an Deck zu begeben. Das Abschießen der Leuchtraketen ließ Daniel ebenso erschrocken aufschreien wie Hunderte von anderen Passagieren. In diesem Moment wusste er, dass sich die
Titanic
in größter Not befand.
     
    Um ein Uhr dreißig brach unter den bisher beherrschten und ruhigen Passagieren Panik aus. Keiner glaubte jetzt mehr an einen geringfügigen Zwischenfall oder an eine Reparatur, denn ein Blick über die Reling sagte allen, dass die
Titanic
langsam, aber sicher über Bug sank. Das vordere Schiffsteil hatte sich deutlich gesenkt, und das Wasser stand nur noch knapp vier Meter unter dem Promenadendeck. Der Andrang auf die Rettungsboote war enorm, Menschen der dritten Klasse durchbrachen die Absperrungen und eilten zu den Booten. Längst war die Trennung der Klassen aufgehoben worden, denn auch die Matrosen, ja, selbst die Offiziere waren nicht mehr Herr der Lage und konnten die Menschen, die um ihr Leben fürchteten, nicht mehr zur Räson bringen.
    »Nur Frauen und Kinder!« Der Ruf hallte über die Decks, und Daniel, der wusste, dass die Rettungsboote niemals für alle Passagiere ausreichen würden, unterdrückte seine aufsteigende Panik. Da endlich sah er Peggy Sue. Wie ein Häufchen Elend lehnte sie an einem Pfosten und schien nichts um sie herum zu bemerken.
    »Peggy! Endlich!« Rücksichtslos drängte Daniel sich durch die Menge, bis er sie erreicht hatte, dann riss er sie in seine Arme und küsste sie. »Ich habe dich überall gesucht, dachte, du bist schon in einem der Boote.«
    »Daniel …« Susan schluchzte und erwiderte seinen Kuss. Auch sie hatte erkannt, dass das Schiff sinken würde, sie war jedoch vor Angst so gelähmt gewesen, dass sie es nicht schaffte, zu einem der Rettungsboote zu gehen.
    »Komm, du musst in eines der Boote.« Daniel zog sie an der Hand hinter sich her. »Sie lassen nur noch Frauen und Kinder einsteigen.«
    »Was ist mit dir?«, schrie Susan.
    »Ich komme schon irgendwie von diesem verdammten Kahn herunter.« Die derbe Wortwahl zeigte Susan, dass auch Daniel keineswegs so ruhig war, wie er ihr vermitteln wollte.
    Als sie dort ankamen, wo zuvor Molly Brown in ein Boot gestiegen war, sahen sie, dass hier alle Boote bereits fort waren. Das Welldeck stand inzwischen vollständig unter Wasser, und die Neigung des Bugs wurde von Minute zu Minute stärker.
    »Sind noch Boote da?« Unbeherrscht fuhr Daniel einen Offizier an, der hilflos herumstand und nicht wusste, was er tun oder wohin er sich wenden sollte.
    »Vielleicht an Steuerbord, Sir«, sagte er so leise, dass Susan ihn kaum verstehen konnte.
    Susan und Daniel hasteten durch die Gänge auf die andere Seite. Die Panik unter den Menschen wurde immer größer. Die meisten schrien und jammerten, es gab aber auch einige, die mit versteinerten Gesichtern einfach auf dem Boden saßen, wissend, dass ihr Leben verloren war. Auf der Steuerbordseite wurde gerade ein Boot abgefiert, es befand sich bereits auf dem Weg nach unten in Höhe des B-Decks. Susan und Daniel rannten, so schnell sie konnten, nach unten und erreichten die Reling, als das Boot auf deren Höhe war. Inzwischen überflutete das Wasser das Promenadendeck, und die ersten Gegenstände begannen in Richtung des untergehenden Bugs zu rutschen.
    »Hallo, hier ist noch eine Frau!«, brüllte Daniel, so laut er konnte.
    »Dann soll sie springen, aber schnell!«, kam die Antwort, und Susan kletterte über die Reling.
    »Du auch, Daniel!«, flehte sie und klammerte sich an sein Revers.
    Er nickte. »Ich komme nach, ich verspreche es dir.«
    Susan starrte auf die Gesichter der Frauen und Männer, die in dem Rettungsboot einige Meter unter ihr saßen, holte tief Luft und stieß sich von der Reling ab. In diesem Moment verfing sich eine Schnur ihrer Schwimmweste, die sie in der Aufregung zu schnüren vergessen hatte, an einem Haken, und die Weste wurde von ihrem Körper gerissen. Dadurch verlor Susan das Gleichgewicht und fiel, anstatt in das Boot,

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