Das Lied der Luege
ordnungsgemäß ihre Schwimmweste angelegt.
»Mrs. Brown!« Erleichtert eilte Susan auf sie zu. »Wissen Sie, was das alles zu bedeuten hat?«
»Leider nicht, und ich glaube, die Offiziere wissen es selbst nicht. Die Stewards laufen wie kopflose Hühner durcheinander, und von niemandem erhält man eine Erklärung, wenn man fragt, warum man uns mitten in der Nacht in die Kälte hinausjagt.« Molly Brown runzelte grimmig die Stirn. »Bisher war ich mit dem Service auf diesem Schiff sehr zufrieden, doch jetzt überlege ich mir ernsthaft, der Schifffahrtsgesellschaft einen geharnischten Brief zu schreiben.«
»Ganz recht, Molly«, sagte eine neben ihr stehende Frau. »Wenn die meinen, etwas Außergewöhnliches zur Unterhaltung der Passagiere durchführen zu müssen, dann sollen sie das nicht mitten in der Nacht und bei dieser Kälte tun. Wenn ich mir eine Lungenentzündung hole, schicke ich die Arztrechnung an die White-Star-Linie.«
Molly lachte, und auch von Susan fiel ein Teil der Anspannung ab.
»Mrs. Brown, haben Sie Daniel … ich meine, Mr. Draycott gesehen? Den Gentleman, der heute Abend mit uns am Tisch saß?«, fragte Susan erwartungsvoll.
»Seit dem Liederabend im Salon, bei dem er eine Reihe hinter mir saß, nicht mehr«, antwortete Molly Brown. Als sie die Enttäuschung auf Susans Gesicht sah, fuhr sie fort: »Keine Sorge, Sie werden Ihren Liebsten schon wiederfinden. Schließlich befinden wir uns hier auf einem Schiff, da geht niemand verloren.«
»Mr. Draycott ist nicht mein Liebster …«, begehrte Susan auf, wurde aber sofort von Mrs. Brown unterbrochen, die ihr leicht die Wange tätschelte.
»Aber, meine Liebe, man braucht Sie beide nur anzusehen, um zu bemerken, dass Sie einander mögen.« Susan errötete, und Mrs. Brown nickte lächelnd, dann wurde ihr Blick aber plötzlich ernst, und sie fragte: »Was ist denn mit Ihrem Gesicht geschehen? Die eine Seite ist ja völlig geschwollen. Das sollten Sie dem Schiffsarzt zeigen.«
»Ich bin vorhin gestürzt«, antwortete Susan rasch. Der freundlichen Molly Brown wollte sie nichts von Kingsleys Überfall erzählen, dafür schämte sie sich zu sehr. Sie wurde einer Antwort ohnehin enthoben, denn plötzlich knallte es über ihren Köpfen. Gebannt starrte Susan nach oben. Eine Rakete stieg hoch hinauf in den nachtschwarzen Himmel, dann erfolgte eine Explosion, die die Stille der Nacht zu zerreißen schien, und eine Wolke von funkelnden Sternen sank langsam herab und verlöschte nach und nach.
»Raketen!« Das Wort hallte, von zahlreichen Menschen gerufen, über Deck.
Susan starrte Molly Brown, die nun auch etwas von ihrer Sicherheit verlor, erschrocken an. Jeder, auch wenn man nicht über viel Erfahrung in der Seefahrt verfügte, wusste, was das Abschießen von Leuchtraketen zu bedeuten hatte. In kurzen Abständen folgte eine zweite, dann eine dritte Rakete. Für einen Moment wurde es totenstill, dann begannen die Menschen zu schreien, und ein Gedränge setzte ein, wie es Susan vorher noch nie erlebt hatte.
Molly Brown straffte die Schultern, holte tief Luft und sagte bestimmt: »Meine Damen, die Situation scheint ernster zu sein, als man uns glauben ließ. Ich denke, es wäre besser, uns zu den Booten zu begeben.«
Im Schlepptau von Mrs. Brown und zwei weiteren Damen drängelte sich Susan durch die Menge in Richtung der Rettungsboote auf der Backbordseite. Als sie die kleine Pforte, die die zweite Klasse von der ersten trennte, passierten, hörte Susan, wie zwei Frauen den dort postierten Offizier fragten, ob sie hier durchgehen dürften, um zu den Booten zu gelangen.
»Nein, meine Damen«, antwortete der Offizier freundlich. »Ihre Boote befinden sich unten auf Ihrem eigenen Deck.«
Susan wechselte mit Molly Brown einen besorgten Blick. Offenbar war damit begonnen worden, die Passagiere in die Rettungsboote steigen zu lassen. Dass es sich hierbei nicht um eine außergewöhnliche Art der Unterhaltung für die Passagiere handelte, war nicht nur Susan bewusst.
»Wahrscheinlich eine reine Vorsichtsmaßnahme«, murmelte Molly Brown und vergaß für einen Moment ihre gute Erziehung. »Sie wollen die Passagiere von Bord haben, bis das Schiff repariert ist. Wir werden uns auf See ein paar Stunden lang mächtig den Hintern abfrieren, dann jedoch wieder in unsere Kabinen zurückkehren können. Ich glaube, diesen Brief schreibe ich wirklich und verlange einen Teil des Reisepreises zurück …«
Dutzende von Menschen warteten geduldig auf das
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