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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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hören wollte. Es war keine Explosion, wie ein Ruderer des Bootes annahm, sondern Susan sah fassungslos, wie das Schiff in zwei Teile zerbrach, als wäre es nicht mehr als ein Pappmodell. Das Vorderschiff versank vollkommen geräuschlos binnen weniger Sekunden, während das Heck wie ein Korken flach auf dem Wasser lag. Dann strömte das Wasser in den offenen Rumpf, und das Achterschiff sog sich voll wie ein Schwamm. Es richtete sich steil auf, verharrte in dieser Position ein paar Sekunden, die dem Betrachter wie Minuten vorkamen, dann schoss es einem Pfeil gleich in die Tiefe. An der Stelle, an der sich noch Augenblicke zuvor ein Schiff befunden hatte, war kein Hinweis zu finden, dass sich gerade die Wellen über dem wunderbarsten Ozeandampfer, der je gebaut worden war, geschlossen hatten. Die Sterne glitzerten am wolkenlosen Himmel, als wäre nichts geschehen.
    »Zwei Uhr zwanzig«, murmelte ein neben Susan sitzender Mann und starrte auf seine goldene Taschenuhr. »Um zwei Uhr zwanzig am fünfzehnten April 1912 ist von der Titanic nichts mehr übrig.«
    Für einen Moment war es völlig ruhig, und das Meer schien vor ihnen zu liegen wie in den Tagen zuvor, als noch niemand an ein solches Unglück auch nur dachte. Dann jedoch begannen die Schreie. Es waren verzweifelte Schreie der Menschen, die im eiskalten Wasser um ihr Leben kämpften. Susan wusste, sie würde, solange sie lebte, dieses Geräusch niemals vergessen, denn es übertraf alles, was sie zuvor gehört hatte. Schreie, ausgestoßen aus Hunderten von Kehlen, von Menschen, die wussten, dass sie keine Chance hatten, in dem eiskalten Wasser länger als einige Minuten zu überleben. Mütter, die nach ihren Ehemännern und Kindern riefen, Kinder nach ihren Eltern. Susan war versucht, sich die Ohren zuzuhalten, aber die Kälte und das Entsetzen lähmten ihren ganzen Körper.
    »Wir müssen hinrudern«, sagte jemand. »Wir müssen versuchen, einige von ihnen zu retten. Wir haben doch noch Platz in unserem Boot.«
    Der Hauptruderer, er trug die Uniform der White Star Line, schüttelte entschieden den Kopf.
    »Sie würden uns umkippen. Hunderte von Menschen würden versuchen, in unser Boot zu kommen, und uns damit unweigerlich zum Kentern bringen.«
    »Wir können diese Menschen doch nicht einfach ertrinken lassen!«
    Der Offizier blickte in die Runde, in seinen Augen stand eine Leere, die Susan nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte.
    »Wir müssen es, wenn wir selbst überleben wollen.«
    Jeder in diesem Boot, gleichgültig, ob Mann oder Frau, ob aus der ersten oder der dritten Klasse, ob jung oder alt, ob Passagier oder Besatzungsmitglied, erkannte die Wahrheit in seinen Worten. Und keiner wollte in dem kalten Wasser treiben, dort erfrieren oder ertrinken. Jeder hatte Freunde, Bekannte und Verwandte, die auf seine Ankunft in New York warteten und die er wiedersehen wollte. Also schwiegen sie. Auch Susan schwieg, obwohl alles in ihr drängte, zur Unglücksstelle zurückzukehren und zu sehen, ob noch jemand zu retten war. Sie dachte an Daniel und daran, dass sie ihn niemals wiedersehen würde. Susan dachte aber auch an Jimmy und an Anabell, und sie wusste, wenn eines ihrer Kinder da draußen im eiskalten Meer treiben würde, dann würde sie selbst ins Wasser springen und zu ihm hinschwimmen, gleichgültig, ob ihr eigenes Leben in Gefahr war. Für ihre Kinder würde sie dieses bereitwillig opfern. Trotzdem hast du beide im Stich gelassen, und Geld war dir wichtiger, mahnte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf. Susan wusste, dass sie diese Stimme von heute an nicht mehr einfach würde ignorieren können, wie sie es die letzten Jahre getan hatte.
     
    Nach und nach wurden die Schreie schwächer, bis sie schließlich ganz verstummten. Der Herr neben Susan schaute erneut auf seine Uhr, offenbar war er entschlossen, den Ablauf der Tragödie ganz genau zu dokumentieren.
    »Es ist genau drei Uhr«, sagte er leise, so dass nur Susan und die direkt neben ihnen Sitzenden ihn verstehen konnten. »Sie haben vierzig Minuten gebraucht, um zu sterben. Vierzig Minuten!«
    Er musste nicht sagen, wen er mit
sie
meinte. Susan fühlte eine völlige innere Leere, über die sie im Moment dankbar war. Nicht nachdenken, vor allen Dingen nicht an Daniel denken. Sie war sich sicher, dass auch er da draußen war. Da er eine Schwimmweste getragen hatte, würde er wahrscheinlich nicht versinken und als Leiche auf dem Wasser treiben.
    Totenstille senkte sich über das Rettungsboot, die nur

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