Das Lied der Luege
vom Geräusch der Ruderblätter, die durch das Wasser zogen, unterbrochen wurde. Später konnte Susan nicht mehr sagen, wie viel Zeit vergangen war, als in der Dunkelheit erst das Licht einer Laterne und dann ein weiteres Boot auftauchte, kurz darauf ein drittes und dann ein viertes. Die Boote steuerten aufeinander zu, und die Männer warfen einander Taue zu, um die Boote miteinander zu vertäuen. Dies alles geschah in einer gespenstischen Stille, niemand sprach mehr als nur die absolut notwendigen Befehle. Im schwachen Licht der Sterne sah Susan immer wieder kleine Eisschollen vorbeitreiben, irgendwann reichte jemand eine flache metallische Flasche herum, in der sich Whisky befand. Für jeden Passagier gab es nur einen winzigen Schluck, kaum mehr, als dass der Gaumen benetzt wurde, aber der Alkohol belebte Susan ein wenig, die schreckliche Kälte würde wahrscheinlich niemals wieder aus ihrem Körper weichen. Im Osten färbte ein schmaler Streifen den Horizont rosa, als plötzlich der Ruf ertönte, der allen Passagieren wie ein Stromstoß durch die Glieder fuhr:
»Schiff voraus! O mein Gott, da kommt ein Schiff!«
Susan wandte den Kopf und erkannte einen großen Dampfer, offenbar ein Passagierschiff, das langsam auf sie zuhielt.
»Wir sind gerettet.« Eine Frau neben Susan brach in Tränen aus, während eine andere fragte: »Sie werden doch alle Boote aufnehmen, oder? Mein Mann ist in einem der anderen Boote. Er hat es mir fest versprochen, ein anderes Boot zu nehmen, als er mich zwang, in dieses Rettungsboot zu steigen.«
Niemand gab eine Antwort, denn alle wussten, dass sie die Männer, die an Bord geblieben waren, niemals wieder in die Arme schließen würden.
»Hoffentlich sehen sie uns!« Der kommandierende Offizier in ihrem Boot stand auf und schwenkte eine Lampe. »Hejo! Hier sind wir!«
Die Männer in den mit ihnen vertäuten Booten taten es ihm gleich, und tatsächlich verringerte das Dampfschiff seine Geschwindigkeit und drehte nach Steuerbord. Der Morgen zog schnell herauf, es würde ein weiterer klarer und sonniger Tag werden, und Susan erkannte immer mehr Rettungsboote auf dem spiegelglatten Meer. Sie waren alle nicht sehr weit voneinander entfernt gewesen, hatten sich wegen der Dunkelheit aber nicht sehen können.
Bald hatte sich das Schiff genähert, und Susan konnte den Namen lesen:
Carpathia
.
Die nächste Stunde verging damit, die Schiffbrüchigen an Bord des Passagierdampfers zu nehmen. Die
Carpathia
war vier Tage zuvor in New York mit Kurs ins Mittelmeer ausgelaufen und hatte knapp achthundert Passagiere an Bord. Vorrangig vermögende Amerikaner, die einen Urlaub in wärmeren Gefilden verbringen wollten. Das Schiff hatte den Notruf der
Titanic
erhalten und sofort seinen Kurs geändert, um der
Titanic
zu Hilfe zu eilen, doch die
Carpathia
fuhr eine geringere Geschwindigkeit als die
Titanic
, außerdem wollte Kapitän Rostron nicht riskieren, ebenfalls mit einem Eisberg zu kollidieren, daher erreichte das Schiff erst Stunden nach dem Untergang die Unglücksstelle und kam somit für die Rettung so vieler Menschen viel zu spät.
Mit klammen Fingern, in denen sie kaum noch Leben spürte, zog sich Susan die Strickleiter hinauf. Helfende Hände hievten sie über die Reling. Sofort reichte ihr jemand einen Becher mit heißem Tee, und eine Decke wurde um ihre Schultern gelegt. Auf dem Deck der
Carpathia
standen Hunderte von Männern und Frauen, die den Schiffbrüchigen mitleidig entgegensahen. Man führte sie unter Deck in einen großen Raum, in dem kaum noch ein Fleckchen frei war. Susan war total erschöpft, so dass sie sich auf den Boden sinken ließ und an einen Pfeiler lehnte. Sie war so müde, so furchtbar müde und wollte nur noch schlafen …
»Sie müssen aus den nassen Sachen raus.« Eine Hand rüttelte an ihrer Schulter. »Nicht einschlafen, Miss, sonst holen Sie sich den Tod.«
Eine etwa gleichaltrige Frau mit dunklen Haaren und Augen musterte sie besorgt und bot ihr die Hand, um aufzustehen. Mit letzter Kraft kam Susan auf die Füße und ließ sich von der Unbekannten an die Hand nehmen. Diese führte sie zwei Decks nach unten, schloss eine Kabinentür auf und schob Susan hinein. Die Kabine war klein und ohne Fenster, jedoch zweckmäßig eingerichtet und mollig warm.
»Dort oben können Sie nicht bleiben«, sagte die fremde Dame, und Susan registrierte zum ersten Mal ihren fremdländischen Akzent. Sie hob den Kopf und sah ihr in die Augen.
»Danke, Sie sind sehr freundlich,
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