Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
Vom Netzwerk:
Miss …?«
    »Derrington, Mistress Antonia Derrington.« Sie deutete auf den Wandschrank. »Dort finden Sie trockene Kleidung, Miss, und legen Sie sich ruhig ins Bett und versuchen Sie, zu schlafen. Ich gehe derweil in den Speisesaal und sehe, ob ich helfen kann. Ich glaube, es gibt jede Menge Tee und heiße Suppe zu kochen.«
    Susan nahm die entgegengestreckte Hand und drückte sie, so fest sie konnte.
    »Susan Hexton«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
    Antonia Derrington lächelte. »Eigentlich sollten alle Schiffbrüchigen in Kabinen untergebracht und entsprechend versorgt werden, aber das Schiff ist beinahe ausgebucht. Als ich Sie jedoch im Saal sah, sahen Sie so verloren aus, dass ich Sie nicht einfach dort sitzen lassen konnte. Auch, weil Ihre Kleidung völlig durchnässt ist.«
    »Man hat mich aus dem Wasser gefischt«, entgegnete Susan und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. »Verzeihen Sie …«
    Mrs. Derrington winkte ab. »Ruhen Sie sich aus, ich lasse Sie jetzt allein.« Die Hand bereits auf der Klinke, wandte sie noch mal den Kopf zu Susan. »Ich hörte, Mrs. Margaret Brown wollte mit der Titanic reisen. Haben Sie die Dame zufällig an Bord gesehen?«
    »Molly Brown? Ja, wir haben uns sogar ein paar Mal unterhalten.«
    »Und? Ist sie … ich meine …«
    Antonia Derringtons Augen blickten besorgt. Schnell nickte Susan.
    »Als ich Mrs. Brown das letzte Mal sah, saß sie in einem der Rettungsboote. Ich bin sicher, sie hat es geschafft.«
    Erleichtert atmete Antonia aus. »Dann werde ich sie suchen. Es ist schon lange mein Wunsch, Molly Brown einmal persönlich kennenzulernen.«
    Susan war zu erschöpft, um zu fragen, warum die freundliche Dame Mrs. Brown sprechen wollte. Mit zitternden Fingern entkleidete sie sich, hüllte sich in eine Decke und legte sich in die schmale Kajüte. Ihr Kopf hatte kaum das Kissen berührt, da war sie auch schon eingeschlafen.
     
    Als Susan erwachte, brauchte sie einen Moment, bis sie sich besann, wo sie war. Dann kamen ihr die letzten Stunden in Erinnerung, und sie dankte Gott für ihre Rettung, obwohl sie seit Jahren nicht mehr gebetet hatte. Die kleine Kabine verfügte nicht über ein eigenes Bad, in der Kanne auf der Kommode war jedoch Wasser. Obwohl dieses kalt war, wusch Susan sich das Gesicht und die Hände, richtete notdürftig ihr Haar und öffnete dann den Wandschrank. Sie zögerte nicht, das Angebot von Antonia Derrington anzunehmen und sich eines ihrer Kleider auszusuchen. Ihre eigenen waren immer noch feucht, durch das Salzwasser verdorben und rochen unangenehm. Susan funktionierte wie eine Maschine, während sie frische Unterwäsche und ein dunkelblaues Kleid anzog. Sie war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen oder gar an Daniel Draycott zu denken. Niemand brauchte ihr zu sagen, dass er tot war. Sie hatte als eine der Letzten das sinkende Schiff verlassen – für alle, die da noch an Bord gewesen waren, hatte es keine Rettung mehr gegeben.
    Susan verließ die Kabine und ging nach oben. Auf der Treppe schlug ihr Essensgeruch entgegen. Erst da merkte sie, wie hungrig sie war. Im Speisesaal ging es zu wie im Wartesaal der Victoria Station in London. Alle Stühle waren besetzt, und die Menschen standen mit Schüsseln und Tellern in den Händen an den Wänden und auf den Gängen. Susan reihte sich in die Schlange ein und musste zwanzig Minuten warten, bis sie einen Teller bekam. Sie bemühte sich, die Erbsensuppe nicht zu gierig hinunterzuschlingen. Selten hatte ihr ein Essen so gut geschmeckt. Als ihr erster Hunger gestillt war, sah sie sich um, konnte aber nirgendwo ein bekanntes Gesicht entdecken. Auch Antonia Derrington war nirgends zu sehen. Sie verließ den Speisesaal und ging an Deck, das ebenfalls voller Menschen war. Susan erkannte, dass sich hier draußen fast nur Passagiere der dritten Klasse aufhielten. Die meisten von ihnen waren mit Nachthemden und Morgenmänteln nur notdürftig und für diese Temperaturen viel zu leicht gekleidet. Stimmen von Passagieren der
Carpathia
drangen an ihr Ohr:
    »Nicht nur, dass wir wegen diesen Leuten nun wieder umdrehen und nach New York zurückfahren, jetzt müssen wir das Deck auch noch mit den Zwischendeckpassagieren teilen«, hörte sie eine hochnäsige Frau sagen.
    »So furchtbar es auch ist, was mit der Titanic geschehen ist, ich finde, man sollte darauf achten, dass die Klassen getrennt bleiben«, antwortete eine nicht minder blasierte Dame. »Stellen Sie sich vor,

Weitere Kostenlose Bücher