Das Lied der Luege
verdrängen.
»Wir sind Ihnen so dankbar, dass wir überhaupt in Ihrer Kabine sein dürfen, Antonia.« Die Frauen hatten sich darauf geeinigt, einander mit den Vornamen anzusprechen. »Ich wünsche, ich könnte mich erkenntlich zeigen«, sagte Susan.
Antonia winkte ab.
»Es ist mir nicht nur Pflicht, sondern Vergnügen, Ihnen helfen zu können. Auch ich befand mich schon in Situationen, in denen ich Hilfe benötigte und diese von unerwarteter Seite erhielt.«
Da Antonia nicht fortfuhr, fragte Susan nicht, was sie damit meinte. Sie vermutete jedoch, dass Antonia Derrington es in ihrem Leben nicht immer leicht gehabt hatte.
Da es noch etwa drei Tage dauern sollte, bis die
Carpathia
New York erreichen würde, beschlossen sie nach einer längeren Diskussion, jede Nacht die Schlafplätze zu tauschen. Susan hatte das Gefühl, in Rosalind und in Antonia Freundinnen gefunden zu haben. Sie hoffte nur, mit beiden Frauen auch nach Ende der Reise in Kontakt bleiben zu können.
Als Susan am nächsten Morgen nach dem Frühstück das Deck betrat, regnete es in Strömen. Immer noch kampierten hier rund einhundert Menschen, die in den Räumen des Schiffes keinen Platz gefunden hatten. Susan hatte erfahren, dass alle Insassen der Boote gerettet und an Bord der
Carpathia
gebracht worden waren. Jeder wurde gebeten, sich beim Zahlmeister registrieren zu lassen, damit das Festland so schnell wie möglich verständigt werden konnte, wer den Untergang der
Titanic
überlebt hatte. Menschen eilten durch das Schiff auf der Suche nach Freunden oder Angehörigen, die vielleicht in einem anderen Rettungsboot gesessen hatten. Auch Susan wurde mehrmals nach Namen gefragt, die sie nie zuvor gehört hatte, und musste bedauernd den Kopf schütteln.
Das Büro des Zahlmeisters befand sich am anderen Ende des Decks, und vor der Tür hatte sich eine lange Schlange gebildet. Susan schlug die Kapuze des von Antonia geliehenen Mantels über den Kopf, um vor dem Regen geschützt zu sein, reihte sich bei den Wartenden ein und lauschte ihren Gesprächen.
»Ich habe gehört, es sind knapp fünfzehnhundert Menschen ertrunken.«
»Und nur siebenhundertzwölf konnten gerettet werden«, sagte ein anderer. »Nicht einmal die Hälfte …«
Es ging nur langsam vorwärts. Immer wieder öffnete sich die Tür, und jemand, der mit der Registrierung fertig war, kam heraus. Plötzlich schienen die Planken unter Susan zu schwanken, als ein Mann das Büro verließ.
»Daniel!« Ihr Schrei hallte über das ganze Deck und zog die Aufmerksamkeit eines jeden auf sich.
Sie stürzte in seine Arme, umklammerte ihn und starrte ihn fassungslos an.
»Peggy … Oh, mein Gott, ich habe dich gestern auf dem Schiff nicht gefunden und dachte … Du bist doch ins Wasser gefallen … neben dem Rettungsboot …«
»Mir geht es gut«, sagte Susan schnell. »Aber wie hast du es geschafft?«
Daniel grinste, der Schmerz in seinen Augen war jedoch unübersehbar.
»Als alle normalen Rettungsboote weg waren, wurde ein Notboot klargemacht. Das Vorschiff war bereits gesunken, und wir konnten nur mit knapper Not das Wrack verlassen. Unmittelbar, nachdem die Titanic gesunken war, zerbarst unser Boot, und wir stürzten alle ins Wasser. Es war unser Glück, dass ein Rettungsboot ganz in der Nähe war und uns aufnahm.«
Daniel sah Susan einen Moment lang an, dann küsste er sie ungeachtet der Dutzende von Zuschauern mitten auf den Mund. Susan erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich, bis jemand hinter ihnen sich räusperte.
»Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung.« Es war ein Offizier der
Carpathia
, der einen Block in den Händen hielt. »Ich verstehe, dass Sie sich über das Wiedersehen freuen, aber ich glaube, Sie, Miss, sind noch nicht registriert.«
Susan fühlte keine Verlegenheit, als sie sich von Daniel löste.
»Ich hatte mich gerade angestellt, um es nachzuholen.«
Der Offizier nickte.
»Sie können auch mir Ihren Namen sagen, Miss …?«
»Hexton«, antwortete Susan mit fester Stimme. »Mrs. Susan Hexton aus England.«
»In welcher Klasse reisten Sie auf der Titanic?«, fragte der Offizier, während er ihren Namen notierte.
»In der dritten Klasse, Sir.«
Sie merkte, wie Daniel neben ihr schneller atmete, und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, jetzt keine Fragen zu stellen.
Der Offizier verabschiedete sich mit einem Nicken und wandte sich dem nächsten Passagier zu.
»Du heißt also Susan«, sagte Daniel. »Und das Mistress habe ich beinahe schon
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