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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Frage. »Ich meine, nach England. Dort sind Sie doch nicht allein.«
    Rose musterte Susan mit einem Blick, der diese an ein waidwundes Tier erinnerte.
    »Als ich vor Jahren mein Elternhaus verließ, war ich mir bewusst, dorthin niemals zurückkehren zu können. Ab diesem Moment war ich für meine Familie gestorben. Nein« – sie schüttelte vehement den Kopf –, »niemals werde ich zu meinem Bruder kriechen und ihn um Hilfe bitten. Da gehe ich lieber betteln.«
    Susan legte eine Hand auf Rose’ Arm.
    »Es mag sein, dass Ihr Bruder verärgert war, als Sie unter Ihrem Stand heirateten, dennoch sind Sie seine Schwester und Ihrer Mutter eine Tochter. Keine Mutter ist so hartherzig, ihr Kind abzuweisen, wenn es Hilfe braucht. Sagen Sie Ihrem Bruder, dass Sie auf der Titanic waren und dass das Schicksal Sie hat überleben lassen. Ich bin sicher, er wird glücklich sein, Sie wiederzusehen, und die Vergangenheit ruhen lassen.«
    Rose lachte höhnisch. »Oh, Sie kennen meinen Bruder nicht. Das Ansehen der Familie und der Stand, welchen er in der Gesellschaft einnimmt, geht ihm über alles. Ich bin sicher, wenn er von dem Untergang in der Zeitung liest, dann wird er in seinem Sessel sitzen, französischen Cognac trinken, genüsslich eine Zigarre rauchen und bedauern, dass so viele Passagiere der dritten Klasse gerettet wurden, während die seiner Gesellschaftsschicht sterben mussten. Pah, ich sehe den guten Edward regelrecht vor mir, wie er in Sumerhays thront und sich aufführt, als wäre er ein Pascha …«
    Rose’ weitere Worte rauschten wie aus weiter Ferne vorbei an Susans Ohren.
    »Sagten Sie Sumerhays?«, hauchte sie, als Rose geendet hatte. »Sumerhays in Cornwall? Bei Ihrem Bruder handelt es sich nicht etwa um Edward Callington?«
    »Kennen Sie Sumerhays etwa?«, fragte Rose erstaunt. »Und meinen Bruder?«
    Wie betäubt schüttelte Susan den Kopf. Die Vergangenheit holte sie immer wieder ein, gleichgültig, wie viel Zeit verging und wo sie sich befand. Auch wenn es mitten auf dem Atlantik war …
    »Edward Callington, dem Viscount of Tredary, bin ich nie begegnet«, antwortete Susan wahrheitsgemäß. »Allerdings seiner Frau … Lavinia.«
    Spöttisch rümpfte Rose die Nase.
    »Lavinia«, wiederholte sie langsam. »Sicher eine vollendete Dame aus den besten Kreisen, wahrscheinlich mit einem großen Vermögen im Hintergrund. Als ich Sumerhays damals verließ, war Edward noch unverheiratet. Haben sie Kinder?«
    »Eine Tochter.« Susans Kehle war ausgetrocknet und fühlte sich rauh an. »Ihr Name ist Anabell.«
    Rose drehte den Kopf, blickte aufs Meer und schwieg für einige Minuten. Susan dachte schon, Rose hätte ihre Anwesenheit vergessen, da sagte sie leise: »Unsere Großmutter hieß Anabell. Ich wurde auch nach ihr benannt – Rosalind Anabell Callington. O mein Gott, ich habe den Namen seit Jahren nicht mehr ausgesprochen, dachte, diesen und alles, was damit zusammenhängt, ein für alle Mal vergessen zu haben.«
    »Rosalind passt viel besser zu Ihnen als Rose«, sagte Susan spontan.
    »Ja, Rosalind klingt nicht so gewöhnlich, nicht wahr?« Erneut schwang Spott in Rose’ Stimme. »Dabei lebte ich die letzten Jahre ein sehr gewöhnliches Leben, zumindest wenn man unsere finanziellen Mittel betrachtet.«
    »Ich werde Sie ab jetzt Rosalind nennen, und Sie sagen Susan zu mir.«
    »Susan?«
    Sie nickte. »Peggy Sue war ein Künstlername, unter dem ich als Schauspielerin aufgetreten bin. In Wahrheit heiße ich Susan Hexton.«
    Susan war es nicht aufgefallen, dass sie in der Vergangenheitsform gesprochen hatte. Als ihr das bewusst wurde, wusste sie, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte.
    »Ah, hier sind Sie! Ich habe Sie schon auf dem ganzen Schiff gesucht.«
    Antonia Derrington eilte zu den beiden Frauen. Sie zeigte sich nicht verwundert, dass Susan in ein Gespräch mit einer Frau aus der dritten Klasse vertieft war, sondern lud beide Frauen ein, in ihrer Kabine Tee und Gebäck zu sich zu nehmen. Susan, die dachte, dass Rosalind ablehnen würde, sah erstaunt, wie diese plötzlich lächelte und die Einladung annahm. Es schien so, als hätte Rosalinds Entschluss, jemandem ihre Geschichte zu erzählen, eine Blockade gelöst.
     
    Die drei Frauen blieben den Rest des Tages in der Kabine von Antonia. Als der Abend anbrach, sagte Rosalind sofort, sie werde auf dem Fußboden schlafen, und Susan meinte, das Sofa sei für sie völlig ausreichend. Auf keinen Fall würden sie Antonia aus ihrer Koje

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