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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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vorhin hat man von mir verlangt, ich möge nachsehen, ob unter meinen Sachen nicht ein Mantel ist, den ich spenden würde. Eventuell noch einer meiner fellgefütterten Mäntel, und das für das primitive Bauernpack!«
    »Eine Unverschämtheit!« Die Stimme der ersten Frau überschlug sich beinahe vor Entrüstung. »Da freut man sich auf ein paar unbeschwerte Wochen unter südlicher Sonne, und nun sind wir in ein paar Tagen wieder zu Hause. Wissen Sie, meine Liebe, ich helfe ja wirklich gern, aber was zu weit geht, geht entschieden zu weit …«
    Schnell wandte Susan sich ab, sonst hätte sie nicht garantieren können, den eingebildeten
Damen
nicht gehörig die Meinung zu sagen. Glücklicherweise dachten und handelten nicht alle so, Antonia Derrington war das beste Beispiel. Suchend sah sie sich um, von der freundlichen Frau war aber auch hier keine Spur zu entdecken. Stattdessen erkannte Susan Rose Cassidy, die an der Reling lehnte und auf das Meer starrte.
    »Rose!« Mit ausgestreckten Armen eilte sie auf die Frau zu. »Sie haben es geschafft! Ich bin so froh, Sie zu sehen.«
    Rose Cassidy drehte sich langsam zu Susan um. Für einen Herzschlag glomm in ihren Augen bei Susans Anblick so etwas wie Freude auf, sie wurde aber sogleich wieder ernst.
    »Miss Peggy Sue«, sagte sie langsam. »Dann hat es auch mal jemand Gutes geschafft.«
    »Wie meinen Sie das?«, fragte Susan verwundert, und Rose zuckte die Schultern.
    »Na, meistens überleben ein solches Unglück ja nur die Leute, die rücksichtslos genug sind, sich einen Platz in den Booten zu sichern. Oder genügend Geld haben, sich einen solchen zu erkaufen.
Sie
sind aber nicht so, Miss. Sie nicht.«
    Obwohl Rose Cassidy den Kopf wieder abwandte, schloss Susan sie in die Arme. Dabei merkte sie, wie knochig deren Körper war.
    »Haben Sie schon etwas gegessen? Im Speisesaal gibt es warme Suppe, Brot und heißen Tee.«
    Rose schüttelte den Kopf.
    »Ich habe keinen Hunger. Ich wünschte, man hätte mich nicht in ein Rettungsboot geschubst, dann wäre es endlich vorbei.«
    »So etwas dürfen Sie nicht einmal denken!«
    Susan erschrak vor der Hoffnungslosigkeit, die Rose ausstrahlte. Bereits auf der
Titanic
hatte sie den großen Kummer der Frau gespürt, jetzt schien sie jedoch völlig gebrochen zu sein.
    »Ach, Miss Peggy, wenn die Titanic mich mit in die Tiefe gerissen hätte, dann wäre ich jetzt bei meinem Mann und meinen Söhnen. Warum hat Gott so viele Menschen sterben lassen und ausgerechnet mich verschont?«
    Sprüche, wie
Gottes Wege sind unerklärbar
oder
Gottes Wille hat immer einen tieferen Sinn,
gingen Susan durch den Kopf, sie schwieg jedoch, da sie spürte, dass sie Rose nicht trösten und, noch weniger, aufheitern könnte. Kurz überlegte sie, ihr von Daniel zu erzählen, entschied sich aber dagegen. Stattdessen fragte sie: »Was werden Sie nun in Amerika machen?«
    Ein bitteres, fast schon zynisches Lächeln erschien auf Rose’ Lippen.
    »Eigentlich hat sich nichts geändert, nicht wahr? Ich bin mit nichts, außer dem, was ich auf dem Leib trage, an Bord der Titanic gegangen, somit habe ich – im Gegensatz zu zahlreichen anderen – nichts verloren. Mein Mann sagte immer, wer nichts hat, der kann auch nichts verlieren. Wie recht er doch hatte.«
    Diese Erklärung veranlasste Susan, die Frage zu stellen, die sie beschäftigte, seit sie Rose Cassidy kennengelernt hatte.
    »Sie sind doch keine Irin, nicht wahr?«
    Rose’ Augenbraue ruckte nach oben. »Wie kommen Sie darauf?«
    »Ihr Englisch ist akzentfrei, dazu drücken Sie sich … gewählter aus als üblicherweise Frauen Ihres Standes.«
    »Sie haben recht.« Rose seufzte. »Warum sollte ich es Ihnen nicht erzählen? Ich stamme aus England, aber nicht nur das, sondern auch aus einer sehr angesehenen und vermögenden Familie. Leider verliebte ich mich in den falschen Mann, von dem meine Mutter und mein Bruder nichts wissen wollten. Es blieb mit nichts anderes übrig, als meinem Mann nach Irland zu folgen.« Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie hinzufügte: »Bei Nacht und Nebel, wie man so schön sagt, bin ich mit ihm durchgebrannt.«
    »Lebt von Ihrer Familie … ich meine, Ihrer Familie in England, noch jemand?«, fragte Susan gespannt.
    Rose nickte. »Ich nehme es an, obwohl mein Bruder einige Jahre älter, aber noch nicht alt ist. Mutter erfreute sich immer bester Gesundheit und hat eine robuste Konstitution.«
    »Warum gehen Sie dann nicht nach Hause?«, entfuhr Susan die

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