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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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hatte. Zwar drückte Rosalind sich immer noch gewählt und kultiviert aus, verfügte über eine hohe Intelligenz, und ihr stolzer, aufrechter Gang verriet die unzähligen Stunden Tanzunterricht, die sie in ihrer Jugend hatte absolvieren müssen. Rosalinds Gesicht jedoch war vor der Zeit gealtert, ihre Hände waren gerötet und rissig, und die Innenflächen von Schwielen übersät. Je mehr Susan über Rosalinds Leben in Irland erfuhr, desto mehr verstand sie ihre neue Freundin. Einst hatte Rosalind Callington alles gehabt, was man sich mit Geld kaufen konnte, und ihr stand eine glänzende Zukunft bevor – zumindest, was materielle Dinge anging. Nur Liebe hatte Rosalind nie kennengelernt, nicht, bis sie Patrick traf und für ihn ihr Leben völlig auf den Kopf stellte.
    »Ich habe es keine Sekunde meines Lebens bereut«, sagte Rosalind leise, und ihre Augen schimmerten feucht. »Patrick hat mir durch seine Liebe all das gegeben, was man mit keinem Geld der Welt kaufen kann.«
    Rosalinds Worte beschämten Susan zutiefst. Einst hatte sie für die lächerliche Summe von eintausend Pfund ihr eigen Fleisch und Blut verkauft, weil sie gehofft hatte, sich mit Geld Glück und Ansehen erkaufen zu können. Ansehen hatte sie als Schauspielerin errungen, das Glück jedoch war ihr nicht hold gewesen. Sie war jetzt achtundzwanzig Jahre alt und hatte an keinem einzigen Tag ihres Lebens von einem Mann auch nur annähernd eine solch tiefe Liebe erfahren wie Rosalind all die Jahre an der Seite Patricks, obwohl deren Leben hart und entbehrungsreich gewesen war.
    Nein, das stimmt nicht, dachte Susan. In Daniel Draycotts Augen hatte sie tiefe Liebe gesehen und hatte bei jeder seiner Berührungen gespürt, was er für sie empfand, doch sie verschloss ihr Herz vor diesen Gefühlen. Einerseits aus Angst, diese Liebe zu verlieren und verletzt zu werden, aber auch, weil sie nicht einfach ein neues Leben in einem anderen Land beginnen und in England ihre Kinder vergessen konnte. Beim Untergang der
Titanic
hatte Susan dem Tod ins Auge geschaut, und das hatte ihr die Augen geöffnet. Wenn sie nicht alles tat, um wenigstens Jimmy wieder zu sich zu holen, würde sie bis ans Ende ihrer Tage nicht mehr glücklich sein können.
    Sie erzählte Rosalind von Paul, ihrer gescheiterten Ehe und von Jimmy, verschwieg jedoch Anabell. Nicht, weil sie Lavinia Callington, Rosalinds Schwägerin, schonen wollte, auch nicht, weil sie mit dem Verkauf ihrer Tochter eine Straftat begangen hatte, sondern weil sie sich für ihr Verhalten furchtbar schämte. Susan wusste, Rosalind würde sie verachten und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen – und das zu Recht.
    Nachdem Susan aus dem Hospital entlassen worden war, kümmerte sich Rosalind rührend um sie. In Dorothea Hawkins hatte Susan auch eine gute Freundin gehabt, doch ihre Beziehung zu Rosalind Cassidy war eine ganz besondere. So war es für Susan selbstverständlich, dass Rosalind sie nach England begleiten sollte, auch wenn diese den Vorschlag zuerst ablehnte.
    »Als mein Mann und meine Söhne … ermordet wurden, habe ich Europa verlassen, um in einem anderen Land, wo mich nichts an die Vergangenheit erinnert, ein neues Leben zu beginnen«, sagte Rosalind bitter. »Ich muss versuchen, irgendwie weiterzuleben, wenn Gott mir schon das Privileg eingeräumt hat, den Untergang zu überstehen.«
    »Damit hat Gott dir ein Zeichen gegeben«, warf Susan ein und sah die Freundin eindringlich an. »Offenbar möchte er nicht, dass du dich für den Rest deines Lebens vergräbst und trauerst. Halte mich bitte nicht für herzlos, Rosalind, wenn ich sage, dass dein Schmerz zwar niemals vergehen, aber irgendwann weniger werden wird. Auch für dich wird es wieder Tage geben, an denen du lachen und fröhlich sein kannst. Was erwartet dich hier in Amerika? Wenn du Glück hast, findest du eine Stelle als Hausmädchen, oder du schuftest in irgendeiner Fabrik, bis dein Rücken krumm und deine Augen trüb werden. Nein, warte, lass mich ausreden.« Susan hob die Hand, als Rosalind sie unterbrechen wollte. »In England kann ich dir zwar nicht viel bieten, denn ich werde niemals wieder auf die Bühne zurückkehren. Ich habe jedoch eine nette kleine Wohnung und etwas Geld auf der Bank, das es uns ermöglicht, in Ruhe nachzudenken, was wir anfangen wollen. Früher träumte ich einmal von einem eigenen Ladengeschäft, etwas mit Süßigkeiten und Schokolade. Vielleicht werde ich das jetzt realisieren, und du könntest mir dabei eine

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