Das Lied der Luege
befürchtet. Du bist die Frau, die ihren Mann und ihr Kind verlassen hat, nicht wahr?«
Susan nickte. »Warum sollte ich dir etwas vormachen, Daniel. Wenn du sie hören möchtest, erzähle ich dir meine Geschichte. Zuerst aber noch eine Frage: Hast du Leonard Kingsley irgendwo gesehen?«
»Nein, ich glaube, er hat es nicht geschafft«, antwortete Daniel. »Das letzte Mal, als ich Kingsley sah, saß er völlig betrunken im Rauchsalon und weigerte sich, eine Schwimmweste anzulegen. Sowenig ich den Herrn auch mochte, einen solchen Tod hat er nicht verdient.«
Susan nickte. Zu ihrem Erstaunen empfand sie Bedauern über Kingsleys Tod, wenngleich der Mann versucht hatte, ihr Gewalt anzutun.
»Mit Kingsleys Tod sind deine Probleme gelöst«, sagte Daniel. »Du wirst vor dem Intendanten vorsprechen und ihm eine Kostprobe deines Könnens geben, und dann wirst du den Vertrag, den Kingsley dir versprochen hat, erhalten. Da habe ich keine Zweifel.«
Ernst sah Susan ihn an, als sie ruhig und emotionslos sagte: »Ich werde nicht an den Broadway gehen.«
»Was willst du denn sonst machen?« Erstaunt runzelte Daniel die Stirn.
»Ich werde mit dem nächsten Schiff, das New York verlässt, nach England zurückkehren, auch wenn mir der Gedanke an eine erneute Atlantiküberquerung wenig behagt. Irgendwie werde ich mir das Geld für die Fahrt besorgen, vielleicht kann ich auf dem Schiff als Sängerin oder auch als Servicekraft anheuern. Irgendeine Möglichkeit wird es geben.«
Sie brauchte nichts zu erklären, Daniel verstand.
»Du willst deinen Sohn suchen und um ihn kämpfen, nicht wahr?«
Und um meine Tochter, dachte Susan, doch von dieser großen Schuld, die auf ihren Schultern lastete, brauchte Daniel nichts zu wissen.
»Ich muss es tun, Daniel«, flüsterte sie.
Er nickte und sprach nicht aus, was er dachte: Was wird dann aus uns? Peggy oder vielmehr Susan musste erst ihren Sohn wiederfinden und ihr Leben in England regeln, bevor sie frei war für einen Neuanfang. Wenn das Schicksal sie füreinander bestimmt hatte, würden sie sich wieder begegnen.
Im strömenden Regen fuhr die
Carpathia
am Abend des 18. April 1912 in den Hafen von New York ein. Susan stand an Deck und blickte zur Freiheitsstatue hinauf. Mit welchen Hoffnungen war sie nach Amerika aufgebrochen, hatte geglaubt, all ihre Träume würden nun zum Greifen nahe sein. Und jetzt, beim Anblick des Wahrzeichens dieser Metropole, verspürte sie nur noch einen einzigen Wunsch: nach Hause zu kommen und Jimmy und Anabell in ihre Arme zu schließen.
Sie war entschlossen, wie eine Löwin um ihre Kinder zu kämpfen!
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Dritter Teil
Susan
Juni 1912 bis März 1919
23. Kapitel
Liverpool, England, Juni 1912
R osalind Cassidy riss die Tür auf und stürmte aufgeregt und mit hochroten Wangen in die schmale Kabine.
»Das Schiff legt in wenigen Minuten an, du musst an Deck kommen. Jetzt kann nichts mehr passieren, selbst wenn, dann können wir die paar Meter zum Kai zur Not auch schwimmen.«
Susan, in eine derbe Wolldecke gewickelt, erhob sich langsam aus der unteren Koje und sah Rosalind nachdenklich an, dann nickte sie.
»Ja, ich habe gespürt, dass die Maschinen gedrosselt werden und das Schiff seine Fahrt verringert.« Sie seufzte und schloss für einen Moment die Augen. »Obwohl ich mit der Kirche nie viel am Hut hatte, danke ich Gott, dass er uns sicher und heil wieder nach Hause gebracht hat.«
Lachend legte Rosalind einen Arm um Susans Schultern.
»Glaube bloß nicht, ich wäre während der letzten acht Tage vor Sorge nicht auch fast gestorben. Ich denke, das ist ganz normal. Keiner, der das Unglück der Titanic überlebt hat, wird jemals wieder sorglos die Planken eines Schiffes betreten. Jetzt wird es aber Zeit, dass du an die Luft kommst, Susan. Draußen ist herrliches Wetter – die Sonne scheint, und es ist sehr warm. Komm, lass uns rasch unsere Sachen zusammenpacken, damit wir zügig von Bord gehen können.«
Vor einer guten Woche waren Susan und Rosalind, Edward Callingtons verstoßene Schwester, in New York an Bord der
Adriatic
gegangen, ein Schiff, das ebenfalls zur Gesellschaft der
White Star Line
gehörte. Bereits im Jahr 1906 gebaut, war es wesentlich kleiner und nicht annähernd so luxuriös wie die
Titanic
, für Susan war das jedoch ohne Bedeutung. Sie und Rosalind reisten ohnehin in der dritten Klasse, und diese sah auf allen Passagierdampfern ähnlich aus. Die beiden Frauen hatten Glück, dass das Schiff nicht voll belegt
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