Das Lied der Luege
war, so konnten sie sich eine Kabine teilen, die eigentlich für vier Personen ausgelegt war. Das Zwischendeck wurde für Fahrten von Amerika nach Europa nicht sehr oft gebucht, denn kaum jemand wanderte dorthin aus. Die Kabine lag unter der Wasserlinie, hatte kein Bullauge und war klein und eng. Zwei Stockbetten auf jeder Seite bildeten die gesamte Einrichtung, ihre Sachen mussten die Frauen in den Koffern lassen, die sie in die freien Kojen gelegt hatten. Weder Susan noch Rosalind verfügten jedoch über viele Besitztümer, sie hatten alles beim Untergang der
Titanic
verloren. Susan hatte es zwar widerstrebt, sich von Daniel Draycott Geld leihen zu müssen, um sich wenigstens notdürftig einkleiden zu können, es war ihr aber keine andere Wahl geblieben. Allerdings hatte sie auf einen Vertrag über die geliehene Summe bestanden.
»Du brauchst mir das Geld nicht zurückzuzahlen«, hatte ihr Daniel versichert, doch Susan hatte vehement den Kopf geschüttelt.
»Bei meiner Bank in London habe ich genug Geld. Sobald ich wieder zu Hause bin, werde ich dafür sorgen, dass dir deine Auslagen bis auf den letzten Penny erstattet werden.«
Zwei Monate waren seit dem schrecklichen Unglück vergangen, bei dem knapp fünfzehnhundert Menschen ihr Leben verloren hatten. Obwohl Susan bereits bei ihrer Ankunft in New York fest entschlossen war, so bald wie möglich nach England zurückzukehren, hatte sie die Reise erst jetzt antreten können. Susan, sonst immer von robuster Natur, war an einer schweren Lungenentzündung erkrankt. Wahrscheinlich hatte sie sich die Krankheit geholt, während sie in ihren nassen Kleidern im Rettungsboot auf Hilfe wartete und furchtbar gefroren hatte. Bereits auf der
Carpathia
waren die ersten Symptome in Form von Husten und leichtem Fieber aufgetreten, Susan hatte ihre Unpässlichkeit jedoch den Aufregungen zugeschoben. Doch kaum von Bord, klappte sie zusammen, als hätte jemand die ganze Kraft aus ihrem Körper gezogen. An die ersten Tage in New York fehlte Susan jegliche Erinnerung, denn ein heftiges Fieber hatte ihr die Sinne getrübt. Irgendwann kam sie in einem Hospital wieder zu sich, und Rosalind Cassidy saß mit besorgter Miene an ihrem Bett. Susan erfuhr, dass sie die ganze Zeit an ihrer Seite ausgeharrt hatte, besonders, nachdem Daniel dringend nach Boston hatte abreisen müssen. Als Rosalind erwähnte, dass Daniel Susans Einweisung ins Krankenhaus veranlasst hatte und für alle Kosten aufkam, wollte sie sich protestierend aufrichten. Sofort wurde ihr schwarz vor Augen, und sie sank in die Kissen zurück.
»Du warst sehr krank«, sagte Rosalind leise und verwendete ab diesem Moment wie selbstverständlich das Du, denn das gemeinsame Erlebnis hatte sie einander nahegebracht. »Vor ein paar Tagen meinten die Ärzte, wir müssten mit dem Schlimmsten rechnen. Ach, ich bin so froh, dass es dir wieder bessergeht, du brauchst jedoch noch sehr viel Ruhe.«
»Ich will nach Hause.« Susans Hals schmerzte, als wäre er mit Stacheldraht gespickt, und sie konnte nur krächzen. Tränen stiegen in ihre Augen. »Ich will zu meinen Kindern.«
Rosalind Cassidy konnte mit Susans Worten nichts anfangen, da Susan nie zuvor Kinder erwähnt hatte. Sie stützte Susan mit einem Arm und hielt ihr ein Wasserglas an die Lippen, aus dem Susan dankbar trank.
»Leider musste Mr. Draycott abreisen«, sagte Rosalind mit einem bedauernden Lächeln. »Dringende Geschäfte machen seine Anwesenheit in Boston erforderlich. Er versprach jedoch, so bald wie möglich nach New York zurückzukommen.«
Von Rosalind erfuhr Susan auch, dass Daniel für die beiden Frauen in einer kleinen Pension in der Nähe des Krankenhauses ein Zimmer gemietet und für Wochen im Voraus bezahlt hatte. Auch ein Bündel Dollarnoten hatte er Rosalind übergeben, das ihnen bei sparsamer Lebensweise für die nächste Zeit ihr Auskommen sicherte. In Susan war alles in Aufruhr, und sie sträubte sich, das Geld anzunehmen, sah jedoch ein, dass sie im Augenblick keine andere Wahl hatte. Für eine baldige Rückreise nach England war sie noch zu schwach, die Krankheit hatte ihren ohnehin zierlichen Körper regelrecht ausgezehrt, und sie musste erst wieder zu Kräften kommen.
In der folgenden Zeit entwickelte sich zwischen Susan und Rosalind eine aufrichtige Freundschaft, bei der Susan vergaß, aus welcher Familie Rosalind stammte. Die Jahre in Irland hatten aus Rosalind eine Frau gemacht, die nichts mehr mit einer Dame aus dem englischen Hochadel gemein
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