Das Lied der Luege
große Hilfe sein.« Susan nahm Rosalinds Hand und drückte sie fest. »Und ich möchte dich als Freundin nicht verlieren«, fügte sie leise hinzu.
Nach einigen Tagen Bedenkzeit stimmte Rosalind schließlich zu, Susan nach England zu begleiten. Auch sie sah durch das Unglück auf dem eiskalten Nordatlantik das Leben mit anderen Augen. Das Schicksal hatte ihr eine zweite Chance gegeben, und sie mochte Susan von ganzem Herzen. Wenn Rosalind ehrlich zu sich selbst war, so hatte sie sich immer ein wenig nach England gesehnt. Bevor Rosalind zustimmte, musste Susan jedoch hoch und heilig schwören, niemals zu versuchen, Rosalind mit ihrer Familie auszusöhnen.
»Mit meinem Bruder bin ich fertig«, sagte Rosalind entschlossen.
»Was ist mit deiner Mutter? Denkst du nicht, dass sie glücklich wäre, dich wieder in ihre Arme zu schließen?«
»Nein.« Rosalinds Stimme klang ungewöhnlich hart. »Du kennst Zenobia nicht, Susan. Diese Frau trägt keine Liebe in sich. Nicht für sich, nicht für ihre Kinder und nicht für andere Menschen. Für sie zählten einzig Vermögen, Ansehen und ihre Stellung in der Gesellschaft.«
Susan war Zenobia nie begegnet, ihre Schwiegertochter Lavinia schien jedoch aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein. Auch sie wollte das Kind unbedingt, um ihre Stellung zu behalten und zu festigen. Vielleicht wurde man so, wenn man in den Hochadel hineingeboren und entsprechend erzogen wurde. Rosalind hatte sich von diesen Fesseln befreit, wofür Susan sie bewunderte.
Zwei Wochen, bevor die
Adriatic
New York in Richtung Liverpool verließ, kehrte Daniel in die Stadt zurück. In der Zwischenzeit hatte er Susan regelmäßig geschrieben und versuchte nun alles, Susan von der Reise abzuhalten.
»Bitte, ich liebe dich«, sagte er eindringlich und hielt ihre Hände. »Heirate mich und beginne ein neues Leben.«
Obwohl Susan am liebsten in seine Arme gesunken und ja gesagt hätte, konnte sie seinen Antrag nicht annehmen. Nicht, weil sie glaubte, Daniel nicht zu lieben, sondern weil er nicht die Wahrheit über sie wusste. Außerdem war sie ja noch verheiratet. Wahrscheinlich würde kein Mensch jemals aufdecken, wenn sie mit Daniel nach Boston ginge und seine Frau würde, Susan selbst jedoch wollte sich nicht der Bigamie strafbar machen. Somit blieb sie bei ihrem Entschluss und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es sie schmerzte, Daniel wahrscheinlich niemals wiederzusehen. Nachdem sie die Sache mit den Finanzen geregelt hatten, buchte Susan für zwei Personen eine Passage nach England. Bewusst entschied sie sich für das Zwischendeck, denn künftig würde sie sich einschränken und auf Luxus verzichten müssen. Zwar lag auf ihrem Konto bei der Londoner Bank noch eine größere Geldsumme, da sie jedoch nicht mehr als Schauspielerin arbeiten und sich ein eigenes Geschäft aufbauen wollte, musste sie mit ihrem Vermögen sparsam umgehen.
Während der acht Tage dauernden Überfahrt verließ Susan ihre Kabine nur, um den kleinen Speisesaal und die Waschräume aufzusuchen. Auch diese Räumlichkeiten verfügten über kein Fenster oder Bullauge, so blieb Susan der Anblick des Meeres, das sie fast das Leben gekostet hätte, erspart. Obwohl Rosalind täglich berichtete, dass der Ozean ruhig und das Wetter sonnig und warm war, war Susan nicht dazu zu bewegen, das Deck zu betreten. Rosalind fühlte bei der erneuten Atlantiküberquerung zwar ebenfalls eine starke Beklemmung, sie zwang sich aber dazu, sich dies nicht anmerken zu lassen, um Susan nicht noch mehr zu verunsichern.
»So etwas passiert einem nicht zweimal hintereinander«, sagte Rosalind betont heiter, dennoch war sie ebenso glücklich wie Susan, als die Küste Englands am Horizont auftauchte und sie in den Hafen von Liverpool einliefen.
Die folgende Nacht verbrachten sie in einem preiswerten Hotel am Hafen und nahmen in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages den Zug nach London. Es war ein herrlicher Frühsommertag, sie mussten jedoch das Fenster ihres Waggons geschlossen halten, da der Fahrtwind Staub, Schmutz und Kohlenruß hereinwehte. Sie durchquerten die von zahlreichen Fabrikgebäuden und Schornsteinen durchzogenen Industriestädte Manchester und Birmingham, passierten malerische, kleine Dörfer und Städtchen in den Grafschaften Warwickshire und Oxfordshire und näherten sich aus nördlicher Richtung der Hauptstadt. Als sie in den Bahnhof Euston einfuhren, setzte bereits die Dämmerung ein.
»Wir werden uns hier für
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