Das Lied der Luege
London Schlagzeilen, sondern auf der ganzen britischen Insel. Lucy ist eine Witwe, die fünf unmündige Kinder durchbringen muss. Seit Frühjahr arbeitete sie in einer Hemdenfabrik in Blackheath. Obwohl die Arbeit hart und ihr Lohn gering war, schaffte es Lucy Sheldon, dass ihre Kinder keinen Hunger leiden mussten. Allerdings sah sie sich von Anfang an den Nachstellungen eines Vorgesetzten ausgeliefert. An einem Abend Ende April war Lucy die Letzte in dem Fabrikgebäude. Da lauerte ihr der Mann auf und wollte ihr Gewalt antun. Lucy wehrte sich und stieß den Mann von sich. Dabei stürzte er unglücklich mit dem Hinterkopf auf eine Tischkante. Anstatt abzuhauen, wie es vielleicht die meisten von uns getan hätten, denn es gab ja keine Zeugen für den Vorfall, holte Lucy Hilfe, weil der Mann schwer verletzt war. Er starb jedoch, kaum dass man ihn in ein Krankenhaus gebracht hatte, und Lucy Sheldon wurde als Mörderin verhaftet.«
»Aber warum denn das?«, rief Susan erstaunt. »Sie hat sich doch nur gewehrt.«
Einen bitteren Zug um den Mund, zuckte Doro die Schultern.
»Dafür gab es keine Beweise. Nun, langer Rede kurzer Sinn: Letzte Woche wurde Lucy Sheldon wegen Mordes zum Tod durch den Strang verurteilt. Das Urteil soll am kommenden Montag vollstreckt werden.«
»Das ist ja eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!« Zum ersten Mal ergriff Rosalind das Wort. »Diese Frau ist doch unschuldig.«
Doro nickte grimmig. »Deswegen sind wir heute auf die Straße gegangen. Wir wollten zum Gefängnis ziehen, in dem Lucy Sheldon auf ihr Todesurteil wartet, und ihre Freilassung fordern.«
»Wir?« Susan zog fragend eine Augenbraue hoch.
»Wir – das ist die Women’s Social and Political Union, kurz WSPU genannt, die unter der Führung von Emmeline Pankhurst und ihren Töchtern Christabel und Sylvia für die Rechte der Frauen kämpft.« Entschlossen straffte Doro die Schultern. »Wenn es sein muss, auch mit Gewalt.«
Fassungslos schüttelte Susan den Kopf. Immer wieder kreuzte der Name Emmeline Pankhurst ihren Weg, und erneut musste sie an die kurze Begegnung mit der Frau vor vielen Jahren denken. Dass jedoch ihre Freundin Doro sich dieser Organisation, die zwar gerechte Ziele verfolgte, dabei aber immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geriet, angeschlossen hatte, konnte Susan nicht verstehen. Sie war doch nur etwas über zwei Monate fort gewesen. Was war in dieser Zeit geschehen?
Bevor Susan all die Fragen, die ihr auf der Zunge brannten, stellen konnte, fuhr Doro auch schon fort: »Du wirst dich sicher wundern, wie ausgerechnet ich zu diesen Frauen komme. Nun, ich lernte Sylvia Pankhurst im Royal Court kennen, und wir verstanden uns vom ersten Augenblick an sehr gut. Nach der Verhaftung ihrer Mutter Emmeline hat sie die Führung der WSPU übernommen.«
»Emmeline Pankhurst ist verhaftet worden?«, fragte Susan erstaunt.
»Bereits Anfang April, ja. Da warst du noch in London, aber irgendwie haben wir das nicht mitbekommen. Nun« – Doro sah Susan eindringlich an –, »damals beschäftigten uns auch andere Dinge, wie zum Beispiel deine Reise nach New York, und uns kümmerte nicht, was draußen vor sich ging. Am 3. April wurde Mrs. Pankhurst als Drahtzieherin eines Bombenanschlages auf das Landhaus des Schatzkanzlers David Lloyd George zu drei Jahren Haft verurteilt. Dieses Urteil löste eine Reihe von Straßenschlachten aus, bei denen die Polizei unvorstellbar hart und grausam gegen die Frauen vorging. Im Gefängnis trat Mrs. Pankhurst in einen Hungerstreik und wurde am 12. April aufgrund ihres schlechten gesundheitlichen Zustandes wieder entlassen. Die Demonstrationen gingen jedoch weiter, es gab zahlreiche Straßenschlachten, Kirchen und andere öffentliche Gebäude gingen in Flammen auf, und dies alles beschränkt sich nicht mehr nur auf London. Frauen in ganz England erhoben sich, um endlich für ihre Rechte einzustehen und, wenn nötig, auch dafür zu kämpfen.«
»Warum aber du?«, fragte Susan. »Du hast dich zuvor nie für Politik interessiert. Und wieso warst du im Royal Court? Du hast dir doch früher dort nie eine Aufführung angesehen.«
Doro seufzte tief und fuhr sich mit einer Hand über die Augen, bevor sie leise sagte: »Seit geraumer Zeit arbeite ich dort. Als Garderobiere …«
»Am Royal Court?« Susan sprang auf, sie verstand immer weniger. »Was ist mit dem Blue Horizon? Warum, um Himmels willen, bist du von dort weg? Und was sagt Theo dazu, der hat dich sicherlich nicht einfach
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