Das Lied der Luege
eine Nacht ein Zimmer suchen«, sagte Susan, während sie den Bahnsteig entlanggingen. »Ich habe dir ja erzählt, dass ich meine Wohnung an eine ehemalige Kollegin untervermietet habe. Ich möchte nicht mitten in der Nacht bei Kay auftauchen und sie aus der Wohnung weisen. Wir werden sie morgen aufsuchen und bitten, sich baldmöglichst nach einer anderen Unterkunft umzusehen.«
»Warum hast du ihr vor unserer Abfahrt in New York nicht telegrafiert?«
Susan zuckte bei Rosalinds Frage die Schultern, obwohl diese durchaus berechtigt war. Sie hatte niemandem in London eine Nachricht geschickt, dass sie das Unglück überlebt hatte und nach England zurückkommen würde. Alle Kontakte, über die Susan in London verfügte, gehörten zu der Welt des Theaters, außerhalb hatte sie weder Bekannte noch Freunde. Die Schauspielerin Peggy Sue war mit der
Titanic
untergegangen und würde niemals wieder in Erscheinung treten. Aus diesem Grund hatte Susan sich weder mit Nathan Schneyder noch sonst jemandem vom
Pigeon-Theatre
in Verbindung gesetzt. Da sie vermutete, ihr Telegramm an Theo Murphy, das sie am Tag der Kollision mit dem Eisberg im Büro des Zahlmeisters aufgegeben hatte, sei nicht mehr übermittelt worden und Theo habe sich somit auch nicht an Nathan Schneyder gewandt, wusste der Intendant auch nichts von ihr. Als die Verlustlisten in New York veröffentlicht wurden, fand Susan neben ihrem Künstlernamen Peggy Sue auch den Namen von Leonard Kingsley unter den Toten. Er hatte es also nicht geschafft. Obwohl Susan allen Grund hatte, Kingsley zu verabscheuen, bedauerte sie seinen Tod.
Sie fanden eine kleine Pension in der Nähe des Bahnhofes, nicht weit vom Britischen Museum entfernt. Plakate kündigten die Neueröffnung einer großen Ausstellung mit ägyptischen Mumien und sonstigen Grabfunden an.
»Das sollten wir uns vielleicht ansehen«, sagte Susan, und Rosalind nickte eifrig.
»Gern, ich habe mich immer schon für Geschichte interessiert. Als Kind hat mich meine Mutter mit ins Museum genommen, damals jedoch waren mir die großen, hohen Räume mit den vielen unbekannten Sachen darin unheimlich gewesen.«
Die Pensionswirtin musterte die beiden Frauen, die zu so später Stunde noch ein Zimmer wollten, skeptisch und nannte den Mietpreis.
»Das Geld ist im Voraus zu bezahlen«, fügte sie hinzu, denn die einfache Kleidung der Frauen ließ sie an deren Liquidität zweifeln. Susan hatte die Dollar, die Daniel ihr gegeben hatte, bereits auf dem Schiff in britische Pfund umgetauscht, so bezahlte sie mit einem überlegenen Lächeln das Zimmer für eine Woche im Voraus. Diese Zeit sollte reichen, damit Kay eine andere Bleibe finden und sie und Rosalind in ihre Wohnung ziehen konnten. Die Wirtin steckte die Pfundnoten in ihre Rocktasche und meinte: »Abendessen ist vorbei. Wenn Sie noch Hunger haben … einen Block weiter gibt es ein Restaurant, das noch geöffnet hat. Das Essen dort ist auch recht günstig.«
Susan ließ sich den Weg zu dem Lokal erklären, dann stellten sie ihr Gepäck in das kleine, aber peinlich saubere Zimmer, erfrischten sich und machten sich auf den Weg zu dem Restaurant. Weder Susan noch Rosalind hatten seit dem Frühstück, das sie noch auf dem Schiff eingenommen hatten, einen Bissen gegessen, und beiden knurrte vernehmlich der Magen.
Sie waren gerade in die Whitfield Street eingebogen, als Susan laute Stimmen und Gesang hörte.
»Was ist denn hier los?«
Rosalind folgte Susans Blick und schüttelte verwundert den Kopf. Eine große Menschenmenge, sicher über hundert Personen – die meisten trugen brennende Fackeln in den Händen –, näherte sich ihnen und füllte die gesamte Breite der Straße aus.
»Vielleicht eine Parade?«, mutmaßte sie. »Aber so spät?«
Sie drückten sich an die Hauswand, um den Zug passieren zu lassen. Es waren ausschließlich Frauen, die ein Lied sangen, das Susan unbekannt war und von dem sie nur wenige Wörter verstehen konnte, denn die Frauen waren keine guten Sängerinnen. Viele trugen große Tafeln über ihren Köpfen, auf denen in Blockbuchstaben Worte wie
Gerechtigkeit für Lucy!
,
Nieder mit den maskulinen Gesetzen!
oder
Lasst Lucy Sheldon frei!
gemalt waren.
»Ich glaube, das ist eine Demonstration.« Susan griff nach Rosalinds Arm. »Es ist besser, wenn wir da nicht reingeraten. Komm, lass uns verschwinden.«
In diesem Moment hörten sie das Getrappel von Pferdehufen, ebenso die schweren Schritte von zahlreichen Stiefeln. Von der anderen Seite
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