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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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bleiben.
    Als Lavinia endlich aufbrechen konnte, war es bereits nach Mitternacht und Edward derart betrunken, dass an ein vernünftiges Gespräch nicht zu denken war. Am nächsten Morgen hatte er das Haus bereits verlassen, als Lavinia zum Frühstück herunterkam. Monkton, der Butler, richtete ihr aus, Mylord wäre den ganzen Tag in einer Sitzung im Oberhaus, und er bitte sie, sich am Abend direkt bei Lady Granger zu treffen.
    »Mylord wird in seinem Club speisen, Mylady.« Monkton verbeugte sich. »Sind Mylady zum Lunch im Haus?«
    »Ja, Monkton, danke«, antwortete Lavinia und zerbröselte gedankenverloren ihren Toast auf dem Teller. Dann jedoch rief sie den Butler, der das Speisezimmer gerade verlassen wollte, zurück. »Monkton, nein, ich werde am Mittag nicht da sein. Ich habe etwas zu erledigen.«
    Die Idee war Lavinia ganz spontan gekommen, und während sie sich umkleidete, begann sie, an ihrem Verstand zu zweifeln. Wenn Edward erfuhr, was sie vorhatte, würde ihr das jede Menge Ärger bescheren. Lavinia wählte eines ihrer besten Tageskleider aus dunkelgrünem Taft mit aufwendiger Spitze am Ausschnitt und an den Manschetten, legte ihren Perlenschmuck an und setzte sich einen eleganten, mit Straußenfedern verzierten Hut auf. Ihr Mantel war aus bestem Samt und ließ auf den ersten Blick ihre Stellung in der Gesellschaft erkennen. Als ihr Monkton in der Halle begegnete und fragte, ob er den Kutscher rufen solle, winkte Lavinia mit einem Lächeln ab.
    »Danke, das ist nicht nötig. Es ist so schönes Wetter, ich werde ein wenig zu Fuß gehen.«
    Monktons ausdruckslose Miene verriet nicht, was er über den Spaziergang seiner Herrin dachte, obwohl es unüblich war, dass eine Dame ohne Begleitung zu Fuß durch die Straßen Londons ging. Lavinia wusste, sie würde sich eine plausible Erklärung einfallen lassen müssen, sollte Edward von ihrem Ausflug erfahren. Langsam schlenderte sie die Straße hinunter. Erst als sie einen Block entfernt war, wagte sie, eine Mietdroschke anzuhalten. Der Kutscher erkannte in ihr sofort eine hochgestellte Persönlichkeit und erkundigte sich nach ihrem Ziel.
    »Nach Islington zum Gefängnis Holloway.« Die Worte gingen Lavinia nur schwer über die Zunge. »Dorthin, wo diese Suffragetten inhaftiert sind. Sie wissen bestimmt, wo das ist, nicht wahr?«
    Der Kutscher machte aus seiner Verblüffung keinen Hehl, doch die Münze, die Lavinia ihm in die Hand drückte, ließ ihn keine weiteren Fragen stellen.
    »Selbstverständlich, Mylady«, sagte er dienstbeflissen und tippte sich an die Mütze.
    Nach einer Fahrt von über einer Stunde – auf den Straßen herrschte viel Verkehr – hatte Lavinia ihr Ziel erreicht. Das Gefängnis lag am nördlichen Rand des Stadtteiles Islington in einer ärmlichen und baufälligen Gegend, in der Lavinia nie zuvor gewesen war. Barfüßige und schmutzige Kinder spielten auf den Straßen, die Häuserfassaden waren vom Ruß der Kamine naher Fabriken schwarz gefärbt, und an den Straßenrändern häuften sich Müll und Unrat.
    »Soll ich auf Sie warten, Mylady?« Skeptisch sah der Kutscher Lavinia an. »Ist keine Gegend, wo Sie schnell wieder ńe Droschke bekommen.«
    Lavinia nickte, der Kutscher hatte recht. Die Menschen, die hier lebten, konnten sich sicher keine Fahrten in Mietdroschken oder gar in benzinangetriebenen Taxen, die immer mehr das Londoner Stadtgebiet beherrschten, leisten.
    Entschlossen schritt sie auf das Portal des Frauengefängnisses zu und klopfte an die Pforte, an der sogleich ein kleines Fenster geöffnet wurde, und ein Mann mit kahlem Schädel fragte: »Sie wünschen?«
    »Ich möchte die Gefangene Rosalind …« Lavinia zögerte, sie hatte keine Ahnung, wie ihre Schwägerin mit Nachnamen hieß, denn diesen hatte Susan nicht erwähnt. »Sie wurde nach dem Brandanschlag auf Downing Street Nummer zehn verhaftet«, sagte sie stattdessen.
    »Das ist unmöglich.« Der glatzköpfige Kerl schüttelte den Kopf. »Die Suffragetten dürfen keine Besuche erhalten.«
    Lavinia straffte die Schultern und setzte ihren hochmütigsten Blick auf.
    »Mein Gatte ist der Viscount von Tredary, Abgeordneter im Oberhaus und eng befreundet mit Arthur James, dem Earl of Balfour, unserem früheren Premierminister. Mr. Herbert Henry Asquith zählt ebenfalls zu unserem Bekanntenkreis.«
    Der Wärter zögerte. Dass er eine hochgestellte Dame vor sich hatte, hatte er gleich erkannt, und er zweifelte nicht an der Richtigkeit ihrer Angaben.
    »Einen Moment,

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