Das Lied der Luege
Mylady«, sagte er. »Ich muss erst mit meinem Vorgesetzten sprechen.«
Eine halbe Stunde später saß Lavinia endlich dem Leiter der Frauenhaftanstalt, einem gewissen Mr. Blessington, gegenüber.
»Es tut mir leid, Lady Tredary, aber die Frauen des Aufstandes dürfen keine Besuche empfangen«, wiederholte er die Worte des Wärters. »Ich habe strenge Anweisungen von ganz oben erhalten.«
»Gilt das auch für Verwandte?«
Die Augenbrauen Mr. Blessingtons schossen nach oben.
»Verwandte?«, wiederholte er erstaunt. »Ihren Angaben zufolge handelt es sich um eine gewisse Rosalind Cassidy … eine Irin einfacher Herkunft. Ich denke kaum, dass eine Dame wie Sie mit so einer in einem verwandtschaftlichen Verhältnis steht.«
»Die Inhaftierte ist meine Schwägerin.« Lavinia wusste, es half nur Ehrlichkeit, wenn sie Rosalind sehen wollte. »Sie ist die Schwester meines Mannes, des Viscounts of Tredary.«
Die Verblüffung des Anstaltsleiters hätte nicht größer sein können, wenn Lavinia gesagt hätte, sie gehöre selbst zu den Suffragetten. Selbstverständlich war ihm Edward Callingtons Name und sein Einfluss im Oberhaus bekannt, trotzdem zögerte er weiterhin.
»Ich weiß nicht, Mylady. Die Anweisungen …«
»Es wird niemand von meinem Besuch erfahren.« Lavinia schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Das ist auch im Interesse unserer Familie, wie Sie sich denken können. Gerade meinem Gatten ist daran gelegen, diese peinliche Angelegenheit geheim zu halten. Welche anständige englische Familie hat schon gerne eine militante Frauenrechtlerin in ihren Reihen?«
Blessington gab sich einen Ruck und erhob sich.
»Also gut, Mylady, aber nur wenige Minuten. Und ich muss Sie bitten, mit niemandem darüber zu sprechen.«
»Selbstverständlich.« Lächelnd legte Lavinia für einen Augenblick ihre behandschuhte Hand auf seinen Arm. »Ich möchte Ihnen keinesfalls Ärger bereiten.«
Der Anstaltsleiter führte Lavinia persönlich in den Zellentrakt, der eng und düster war. Eine Stahltür reihte sich neben die andere, und Lavinia wurde es eng in der Brust. Sie konnte die Beklemmung, die sie an diesem Ort überfiel, nicht abschütteln und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Vor einer Zelle mit der Nummer 38 blieb Blessington stehen. Nach einem kurzen Blick durch die Klappe öffnete er die Tür.
»Sie haben zehn Minuten, Mylady. Ich warte hier draußen.«
Die Zelle wurde nur von einer Kerze beleuchtet, deren Licht gespenstische Schatten auf die nackten Steinwände warf. Lavinia blinzelte mehrmals, bis sie eine Gestalt auf der Pritsche liegen sah. Bei ihrem Eintreten drehte die Frau den Kopf in ihre Richtung.
»Rosalind?«, flüsterte Lavinia heiser. »Rosalind Callington?«
Die Frau zuckte zusammen und richtete sich auf.
»Wer sind Sie?«
Ihre Stimme klang rauh. Ihr einst dunkles Haar, durch das sich viele graue Strähnen zogen, war nachlässig zu einem Dutt gesteckt. Als Lavinia Rosalind ins Gesicht sah, erschrak sie. Die linke Seite war geschwollen und lila verfärbt, ihre Lippen waren spröde und dick geschwollen, und die Mundwinkel blutverkrustet. Ein säuerlicher Geruch nach Erbrochenem, nach Exkrementen und nach Schweiß lag in der Luft, und Lavinia musste sich beherrschen, um nicht ein Taschentuch vor ihre Nase zu pressen.
»Mein Gott!« Mit einem Stöhnen ließ sich Lavinia auf der Kante der Pritsche nieder. »Was haben sie mit dir gemacht?«
Rosalinds Augen verengten sich zu Schlitzen. Abwehrend rutschte sie zur Wand und starrte Lavinia unfreundlich an.
»Wer sind Sie, und was wollen Sie?«
»Du kennst mich nicht, Rosalind.« Lavinia zögerte, wusste nicht, wie sie beginnen sollte. »Mein Name ist Lavinia … Lavinia Callington, ich bin Edwards Frau.«
Erschrocken wich Rosalind noch weiter zurück, einen Ausdruck von Panik in ihrer Miene.
»Hat Edward Sie geschickt? Will er, dass man mich … hängt?«
Lavinia schüttelte den Kopf. »Mein Mann … dein Bruder hat keine Ahnung, dass ich hier bin.« Lavinia überwand ihren Ekel vor der schmutzigen Gestalt und griff nach Rosalinds Hand. »Susan Hexton hat mir erzählt, was mit dir geschehen ist.«
»Dazu hatte sie kein Recht«, stieß Rosalind bitter hervor. »Sie hat mir versprochen, niemanden von meiner Familie zu informieren, wenn ich mit ihr nach England zurückkomme.«
»Susan konnte nicht anders handeln.« Beruhigend strich Lavinia über Rosalinds Handrücken. »Sie hat mir alles erzählt, und sie hat das Richtige getan. Du und
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