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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Auch wenn es Lavinia widerstrebte, mit Susan einer Meinung zu sein – keine Mutter konnte so hartherzig sein, ihr eigen Fleisch und Blut dem Tode zu weihen.
     
    Lavinia hatte erwartet, dass Edward zornig werden würde, wenn sie ihm von Rosalind erzählte, doch mit einer solch beherrschten Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Nach dem Frühstück bat Lavinia das Personal, sie und ihren Mann allein zu lassen, dann begann sie mit leiser und ruhiger Stimme, von Rosalind und deren Inhaftierung zu berichten – immer darauf gefasst, dass Edward sie brüsk unterbrechen und sehr ärgerlich werden würde. Lavinia hatte sogar mit einem regelrechten Wutausbruch ihres Mannes gerechnet und mit dem Befehl, sofort jeglichen Kontakt zu Rosalind abzubrechen und den Namen der Frau, die seiner Meinung nach Schande über die Familie gebracht hatte, nie wieder zu erwähnen. Niemals hätte Lavinia jedoch erwartet, dass Edward ihr ruhig und gelassen zuhörte und sie aussprechen ließ. Lediglich ein nervöses Zucken seines linken unteren Augenlides, was Edward stets bekam, wenn er innerlich erregt war, verriet, dass er keinesfalls so gelassen war, wie er sich gab. Sein Gesichtsausdruck blieb jedoch regungslos, sein Blick schien weder sonderlich interessiert noch verächtlich oder gar zornig. Mutig geworden, berichtete Lavinia von ihrem Besuch im Frauengefängnis Holloway.
    »Deine Schwester wurde offenbar zwangsernährt. Du hättest sie sehen müssen, Edward! Sie ist wund und krank, eine längere Haft wird Rosalind nicht überstehen.«
    »Die Frauen unserer Familie sind zäh.« Zum ersten Mal sprach Edward. »Jedenfalls die, die unter dem Dach von Sumerhays geboren wurden.«
    Diesen kleinen Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen, aber Lavinia ging nicht darauf ein.
    »Bitte, Edward, du hast doch bestimmt die Möglichkeit, Rosalind eine weitere Haft zu ersparen. Außerdem ist sie unschuldig. Wie ich bereits sagte, hat und hatte deine Schwester nie etwas mit diesen Suffragetten zu schaffen. Es war ein unglücklicher Zufall, dass sie sich an diesem Morgen in der Downing Street befand.«
    Für einen Moment schloss Edward die Augen, und Lavinia meinte, ein verhaltenes Seufzen zu vernehmen, dann legte er seine Serviette ordentlich gefaltet neben den Teller und stand auf.
    »Ich werde es mir überlegen. Wir sprechen heute Abend darüber, ich habe jetzt gleich eine Besprechung.« Er runzelte die Stirn und sah Lavinia fragend an. »Wolltest du heute nicht nach Sumerhays abreisen? Monkton sagte mir, du hättest deine Pläne geändert.«
    Lavinia nickte. »Ich habe meine Abreise verschoben. Solange Rosalind im Gefängnis ist, möchte ich London nicht verlassen.«
    »Warum nicht?« Edward trat so dicht vor Lavinia, dass sie seinen Atem riechen konnte. »Du kennst sie doch überhaupt nicht. Als du mich geheiratet hast, hatte meine Schwester das Land längst verlassen und unseren guten Namen in den Schmutz gezogen.«
    Lavinia bemühte sich um ein freundliches Lächeln. Edward war offenbar in einer guten Stimmung, es galt, diese auszunutzen.
    »Als deine Frau fühle ich mich der Familie natürlich eng verbunden«, sagte sie demütig. »Das Wohl einer Callington liegt mir am Herzen, selbst wenn sie einst von dir und deiner Mutter verstoßen wurde. Rosalind hat es in ihrem Leben offenbar nicht leicht gehabt. Ich denke, jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient.«
    Edward griff nach Lavinias Kinn und hob ihren Kopf, so dass sie ihm in die Augen sehen musste.
    »Eine zweite Chance …«, murmelte er. »Vielleicht hast du recht, und wenn es nur darum geht, den Ruf unserer Familie nicht noch mehr zu schädigen.«
    »Dann wirst du Rosalind also helfen?«
    Edward ließ sie los und wandte sich zur Tür.
    »Ich sagte bereits, dass ich darüber nachdenken werde. Bist du heute Abend zu Hause?«
    Lavinia nickte. Da sie heute eigentlich abreisen wollte, waren für diesen Tag keine weiteren Einladungen geplant.
    Nachdem Edward gegangen war, ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und atmete tief durch. Konnte es wirklich sein, dass Edward seinen Groll auf Rosalind überwunden hatte? Dass sein Herz doch nicht so kalt war, wie Lavinia bisher angenommen hatte? Edward hatte nur diese eine Schwester – Lavinia war sich sicher, er würde Rosalind nicht im Gefängnis zugrunde gehen lassen oder sie gar dem Henker ausliefern.
     
    Während des Dinners ließ Edward sich nicht anmerken, zu welchem Entschluss er gekommen war. Während er genüsslich erst dem pochierten

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