Das Lied der Luege
ich … wir sind Schwägerinnen. Ich werde dich hier rausholen.«
Spöttisch lachte Rosalind. »Wie wollen Sie … wie willst du das bewerkstelligen? Man wird mich wegen versuchten Mordes vor Gericht stellen.«
»Edward verfügt über großen Einfluss …«
»Nein!« Rosalinds Aufschrei hallte von den Wänden wider. »Ich will nicht, dass er oder unsere Mutter etwas davon erfährt.« Sie sah Rosalind fragend an. »Ist Zenobia überhaupt noch am Leben? Sie ist ja bereits weit über siebzig.«
Lavinia nickte. »Zenobia lebt auf Sumerhays, und bis auf den Rheumatismus geht es ihr gut.«
»Ist sie immer noch so …«, zum ersten Mal zeigte sich ein Lächeln auf Rosalinds Lippen, »bestimmend?«
Lavinia drückte die Hand ihrer Schwägerin.
»Du musst hier raus«, sagte sie beschwörend. »Wenn Edward erfährt, was sie dir angetan haben, wird er alles tun, was in seiner Macht steht.«
Rosalinds Widerstand begann zu bröckeln. Die letzten Tage waren für sie die Hölle gewesen. Sie hatte gedacht, durch den Hungerstreik ihre Freilassung erreichen zu können, doch die brutalen Maßnahmen der Zwangsernährung hatten sie eines Besseren belehrt. Die Regierung war fest entschlossen, mit allen Beteiligten des Sonntagsaufstandes kurzen Prozess zu machen.
»Ich bin unschuldig«, flüsterte sie und hielt ihre Tränen nicht zurück. »Ich habe mit den Suffragetten nichts zu tun, bin da nur zufällig reingeraten.«
»Ich glaube dir.« Das Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels zeigte Lavinia, dass sie wieder gehen musste. Obwohl Rosalind furchtbar aussah und nicht gerade angenehm roch, beugte sie sich vor und küsste die Schwägerin auf die Stirn. »Ich verspreche dir – wir holen dich nach Hause.«
Ein müdes Lächeln war die einzige Antwort.
Als Lavinia das Gefängnis verließ und in die Droschke stieg, zitterte sie am ganzen Körper. Sie war keinesfalls so zuversichtlich, wie sie Rosalind hatte glauben lassen. Lavinia hatte nicht vergessen, wie abwertend, beinahe schon bösartig Edward über seine Schwester gesprochen hatte, und bei Zenobia reichte allein die Erwähnung ihres Namens, dass die alte Dame einen Kreislaufkollaps erlitt. Sie wollte dennoch nicht aufgeben. Rosalind war trotz allem eine Callington, und es war an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Lavinia ließ sich von dem Kutscher zu einem Telegrafenamt fahren. Dort gab sie ein Telegramm nach Ladbrooke House auf.
ANKUNFT VERZÖGERT SICH +++ WICHTIGE GESCHÄFTE +++ TUT MIR LEID +++ GEORGIE
Da Sebastian Eathorne in seinem Haus keinen Telefonanschluss hatte, war
Georgie
zu Lavinias Decknamen geworden, unter dem sie Sebastian telegrafierte, wenn sie in London war. Wenn sie auch nicht glaubte, dass das Telegramm in falsche Hände geraten könnte – sicher war sicher. Nachdem das erledigt war, ließ sie sich von dem öffentlichen Telefon aus mit Sumerhays verbinden. Im letzten Winter hatte Edward endlich einen Anschluss legen lassen. Mrs. Windle hob nach dem zweiten Läuten ab.
»Ich kann morgen nicht kommen«, sagte Lavinia. »Wichtige familiäre Angelegenheiten halten mich noch ein paar Tage in London auf.«
»Oh, da wird Anabell aber enttäuscht sein«, erwiderte die Haushälterin, deren Stimme durch die Telefonleitung völlig verzerrt klang. »Sie fragt seit Tagen nach Ihnen und wann Sie endlich wieder zu Hause sind.«
Eine Welle der Traurigkeit durchflutete Lavinia bei dem Gedanken an ihre Tochter.
»Geben Sie Anabell einen Kuss von mir. Ich sehe zu, so bald wie möglich nach Sumerhays zu kommen. Und, Mrs. Windle – richten Sie bitte vorsorglich das beste Gästezimmer her. Es könnte sein, dass ich in Begleitung bin, sagen Sie aber meiner Schwiegermutter nichts davon, ja?«
Die Frage, wer Lavinia begleiten würde, stand Mrs. Windle nicht zu. Sie versprach, alles Notwendige zu veranlassen, dann beendete Lavinia das Gespräch. Heute würde sie keine Gelegenheit haben, mit Edward zu sprechen, aber gleich morgen früh wollte sie es tun. Sie glaubte nicht, dass er so hartherzig sein könnte, seine einzige Schwester weiter den Grausamkeiten des Gefängnisses auszusetzen. Wenn sie Edward schilderte, was dort mit Rosalind geschehen war und in welchem Zustand sie sich befand, dann musste selbst sein Herz weichwerden.
Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf mahnte Lavinia, dass die Jahre an Edwards Seite sie etwas anderes gelehrt hatten, doch sie ignorierte diese. Wenn es nicht anders ging, würde sie Zenobia informieren.
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