Das Lied der Luege
warum ich noch eine Minute länger Ihre Anwesenheit erdulden sollte. Ich denke, Sie finden allein hinaus, nicht wahr?«
Während Lavinias Worten hatte Susan ihrem Blick aus den kalten Augen standgehalten, jetzt erhob sie jedoch die Stimme und rief: »Jetzt hören Sie doch mal zu, Lady Lavinia! Es geht nicht um mich, es geht auch nicht um Anabell, sondern …«
»Worum sonst?«, hakte Lavinia nach, als Susan zögerte.
»Sagt Ihnen der Namen Rosalind etwas? Rosalind Callington?«
Lavinia zuckte zusammen.
»Rosalind? Die Schwester meines Gatten?«
Erleichtert, dass Lavinia von ihrer Schwägerin wusste, nickte Susan.
»Ganz recht, wegen dieser Frau bin ich hier. Glauben Sie mir, Lady Lavinia, es ist mir nicht leichtgefallen, ausgerechnet Sie aufzusuchen, ganz gewiss nicht. Rosalind befindet sich jedoch in Schwierigkeiten, und Sie sind die Einzige, die ihr helfen kann.«
In Lavinias Kopf brummte es wie in einem Bienenstock. Seit Jahren hatte sie den Namen ihrer Schwägerin, der verstoßenen Schwester Edwards, nicht mehr gehört oder selbst ausgesprochen. Nicht, seit Zenobia ihr schwere Vorwürfe gemacht hatte, als sie einmal deren Tochter erwähnte. Was aber hatte Susan Hexton mit Edwards Schwester zu schaffen? Die war doch damals nach Irland geflüchtet. Und überhaupt – warum lebte Susan noch? Im April hatte in allen Zeitungen gestanden, die Schauspielerin Peggy Sue habe den Untergang der Titanic nicht überlebt. Fragen über Fragen … Lavinia seufzte. Wie es schien, würde sie Susan wohl nicht so schnell wieder loswerden. Mit einem Blick auf die Uhr, der ihr sagte, sie müsse auf ihr Bad verzichten, wies sie seufzend auf einen Stuhl.
»Setzen wir uns«, forderte Lavinia Susan auf. Nicht, weil sie Susan gegenüber gastfreundlich sein wollte – dafür bestand kein Grund –, sondern weil ihre Knie zitterten. »Also, der Reihe nach«, fuhr Lavinia fort, als die beiden Frauen sich gegenübersaßen. »Ich hätte nicht erwartet, Sie jemals wiederzusehen. Die Zeitungen schrieben, dass Sie …«
»Ich habe überlebt«, schnitt Susan ihr das Wort ab. »Das ist zweitrangig. Jetzt geht es um Rosalind, die in großen Schwierigkeiten steckt.«
»Woher kennen Sie eigentlich meine Schwägerin?«
»Wir sind uns auf der Titanic begegnet«, antwortete Susan. Wenn sie Lavinias Hilfe wollte, dann musste sie ehrlich sein. »Die Schwester Ihres Mannes hat in Irland ihre ganze Familie verloren und wollte nach Amerika auswandern. Ich bat sie jedoch, mit mir nach England zurückzukehren.«
»Ich fange an zu verstehen«, sagte Lavinia langsam. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Rosalind hat Ihnen wahrscheinlich alles über ihre ach so böse Familie und das Unrecht, das ihr zugefügt wurde, erzählt. Die Gelegenheit, dieses Wissen nun gegen uns zu verwenden, lassen Sie sich nicht entgehen, Susan Hexton.« Lavinia beugte sich vor und fixierte Susans Blick. »Was wollen Sie? Mich erpressen, damit die Öffentlichkeit nichts von Rosalind erfährt? Die politische Karriere meines Mannes zerstören, wenn bekannt würde, dass er seine einzige Schwester verleugnet und aus dieser eine einfache irische Frau geworden ist? Bekommen Sie Ihren Hals immer noch nicht voll?«
»Sie missverstehen mich, Mylady.« Abwehrend hob Susan beide Hände. »Ich sagte bereits, dass Rosalind in Schwierigkeiten steckt. Auch wenn ich weiß, dass Ihr Gatte keinen Kontakt zu seiner Schwester wünscht, hoffe ich, dass Sie nicht so kaltherzig sind, Rosalind ihrem Schicksal zu überlassen.«
»Welchem Schicksal?« Scheinbar desinteressiert zuckte Lavinia mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist sie völlig verarmt und möchte in den Schoß der Familie zurückkehren. Das liegt jedoch nicht in meiner Hand. Diese Entscheidung haben mein Mann und meine Schwiegermutter zu treffen.«
»So hören Sie doch einmal zu!« Allmählich wurde Susan wütend, und sie hob die Stimme. »Ihre Schwägerin Rosalind sitzt im Gefängnis und sieht einer Anklage entgegen. Wir müssen sie da rausholen, denn Rosalind steht das nicht lange durch.«
»Im Gefängnis?« Lavinia zuckte zusammen, ihre Augen weiteten sich ungläubig. »Warum? Was hat sie getan?«
»Endlich stellen Sie diese Frage.« Susan seufzte erleichtert. »Sie war bei der Demonstration in der Downing Street dabei. Eigentlich wollte Rosalind gar nicht mitgehen, ich habe sie dazu überredet und mache mir seitdem die größten Vorwürfe.«
»Rosalind hat versucht, den Premierminister zu töten?« Lavinia sprang
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