Das Lied der Luege
belegter Stimme fragte sie: »Wie soll ich das bewerkstelligen? Eathorne besitzt ein Haus in Cornwall, ich kann ihn nicht zwingen, fortzugehen.«
Der Blick aus Edwards Augen war eisig kalt.
»Noch heute wirst du ihm einen Brief schreiben. Selbstverständlich werde ich dir jedes einzelne Wort diktieren. Wenn er sein Haus verkauft und verschwunden ist, kannst du von mir aus wieder nach Sumerhays fahren und dort bleiben, so lange du willst. Ich lege künftig keinen Wert mehr auf deine Anwesenheit hier in London. Rosalind wird dich nach Sumerhays begleiten und dort ein zurückgezogenes Leben führen. Ich habe endgültig genug von irgendwelchen Skandalen.«
Lavinia senkte den Kopf und schwieg, ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Sebastian verlassen … ihn nie wiedersehen … nie wieder die Wärme seiner Stimme und die zärtlichen Berührungen seiner Haut spüren …
Edward sprach ungerührt weiter. »Selbstverständlich kannst du noch heute Nacht nach Cornwall fahren und dich wieder wie eine gemeine Hure in die Arme deines Liebhabers werfen. In diesem Fall werde ich gleich morgen die Scheidung einreichen und deine ehebrecherische Beziehung öffentlich machen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass du Anabell nie wiedersehen wirst. Ebenso wirst du keinen einzigen Penny von mir erhalten. Wenn du schwörst, diese Sache zu beenden und dafür Sorge zu tragen, dass Eathorne für immer und ewig aus unserem Leben verschwindet, kommt Rosalind noch heute Abend frei. Wenn du allerdings auf deinen Liebhaber nicht verzichten willst, dann kann meine
liebe Schwester
von mir aus verrecken. Du hast die Wahl.«
Lavinia erinnerte sich an Edwards Frage, warum sie sich für Rosalind einsetzte, obwohl sie die Frau doch gar nicht kannte. Lavinia wusste, es wäre jetzt das Beste, Edward zu verlassen. Sebastian wartete seit Monaten darauf, dass sie sich zu ihm bekannte. Da war jedoch Anabell, und ihr Kind würde sie niemals im Stich lassen. Seit dem
Unfall
von Zenobias Mann machte sie sich ohnehin Vorwürfe. Als sie damals Ennis Nankerris nach Ravenwood geschickt hatte, hatte sie lediglich gewollt, dass Archibald krank würde, so dass Zenobia gezwungen war, abzureisen. Dass er gelähmt sein und bald darauf sterben würde, hatte sie niemals beabsichtigt. Jetzt bot ihr das Schicksal die Chance, einen Teil ihrer Schuld wiedergutzumachen, indem sie Rosalind befreite.
Edward war Lavinias Unentschlossenheit nicht entgangen, er wusste jedoch, dass er die besseren Karten in der Hand hielt. Emotionslos sagte er: »Also, meine Liebe, ich warte. Für wen hast du dich entschieden? Für deinen Geliebten oder für deine Schwägerin?«
27. Kapitel
London, Oktober 1912
S chweißgebadet richtete Susan sich auf, drückte eine Hand gegen ihren schmerzenden Rücken und fuhr sich mit der anderen Hand über die feuchte Stirn. Sie hinterließ dabei schwarze Schlieren im Gesicht, was sie weder bemerkte noch störte. Es war keine Zeit, eitel zu sein, denn in der nächsten Stunde musste sie noch knapp tausend Flugblätter fertigstellen, die am nächsten Tag verteilt werden sollten. Mit der dampfgetriebenen Druckerpresse, die die
WSPU
vor vier Wochen als Spende erhalten hatte, ging die Arbeit zwar schneller vonstatten als zuvor, wo jedes einzelne Blatt Papier per Hand gedruckt werden musste. Die Maschine heitzte den Raum jedoch so sehr auf, dass man binnen kurzer Zeit schweißgebadet war und einem das Atmen schwerfiel. Seit einigen Jahren gab es zwar Druckerpressen auf dem Markt, die mit Elektrizität angetrieben wurden, diese waren für ihre Gruppierung jedoch unerschwinglich. So waren sie über das Geschenk einer Londoner Druckerei, die ihre Produktion auf die neuen Maschinen umgestellt hatte, sehr dankbar, und die Druckerpresse lief zehn bis zwölf Stunden täglich.
Vor einem Monat hatte Susan ein eigenes, kleines Büro in dem mehrstöckigen Gebäude, in dem die Partei Räume angemietet hatte, bezogen. Hier konnte sie in Ruhe ihre Artikel schreiben und diese dann gleich im Nebenzimmer drucken. Auch Doro und zwei Dutzend andere Mitglieder ihrer Gruppierung arbeiteten hier, und Emmeline Pankhurst schaute täglich vorbei. Zuerst hatte Susan zwar an den Methoden gezweifelt, mit denen die Suffragetten versuchten, ihre Ziele durchzusetzen, hatte dann jedoch lange Gespräche mit Mrs. Pankhurst geführt und war in ihren Bann geraten. Diese Frau ließ sich von der Männerwelt nichts diktieren und lebte ihr eigenes Leben. Sie hatte eine glückliche Ehe
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