Das Lied der Luege
geführt, als ihr Mann jedoch vor vierzehn Jahren starb und sie vier unmündige Kinder allein durchbringen musste, hatte sie festgestellt, dass Frauen in der Gesellschaft etliche Stufen unter den Männern standen, auch wenn sie ebenso hart, wenn nicht sogar härter arbeiteten. Mrs. Pankhurst hielt sich und ihre Kinder mit dem kläglichen Lohn einer Standesbeamtin über Wasser, bis sie im Jahr 1903 zusammen mit ihrer ältesten Tochter Christabel die
Women‘s Social and Political Union
gründete und seitdem jede Minute in die Vereinigung investierte und für deren Ziele lebte.
Susan begann, sich immer mehr mit der Gruppe zu identifizieren, und die Arbeit machte ihr großen Spaß. Es waren zwar nur kleine Schritte, mit denen die Suffragetten vorankamen, doch auch minimale Erfolge waren besser, als teilnahmslos in einer Ecke zu sitzen und die Hände in den Schoß zu legen. Immer mehr Länder der Welt führten das allgemeine Frauenwahlrecht ein – sie mussten dafür kämpfen, dass bald auch in England das Wort
Demokratie
für alle Bürger galt.
In den letzten Monaten hatte Susan wiederholt versucht, ihren Sohn zu sehen und mit ihm zu sprechen, Paul jedoch hatte jeden weiteren Kontakt verhindert und sie mit wüsten Beschimpfungen von der Schwelle seines Hauses gewiesen. Bei ihrem letzten Besuch war er angetrunken gewesen und hatte sogar die Hand gegen sie erhoben. Nach langem Überlegen hatte Susan erneut einen Anwalt aufgesucht. Dafür hatte sie ihr ganzes Geld zusammengekratzt, das sie bei der
WSPU
verdiente, und sich eine Woche lang kein Stück Fleisch leisten können. Die Antwort des Rechtsverdrehers, wie Doro diesen Berufsstand nannte, war wiederum niederschmetternd gewesen. Natürlich war die Ehe zwischen Paul und Kate ungültig, Paul würde jedoch keine Anzeige wegen Bigamie erhalten, da bei seiner zweiten Eheschließung alles dafürgesprochen hatte, dass seine erste Frau – sie, Susan – nicht mehr am Leben war.
»Kann ich mich von diesem Mann scheiden lassen?«, fragte Susan, und der Anwalt nickte.
»Selbstverständlich können Sie ein Scheidungsbegehren einreichen. Wie die Sachlage aussieht, wird Ihnen die volle Schuld am Scheitern Ihrer Ehe zugesprochen, da Sie Ihren Gatten verlassen haben und nicht gewillt sind, wieder mit ihm zusammenzuleben.«
»Was ist mit meinem Sohn?«
»Dieser bleibt selbstverständlich bei seinem Vater.« Der Anwalt sagte diese Worte, die Susans ganze Hoffnungen zerstörten, so nüchtern und sachlich, als würde er sich ein Sandwich bestellen. »Wenn Sie schuldig geschieden werden – und daran habe ich keinen Zweifel –, haben Sie jeden Anspruch auf Ihr Kind verloren. Es bleibt dann ganz allein dem Ermessen des Vaters und Vormundes überlassen, ob dieser gewillt ist, Ihnen Kontakt zu Ihrem Sohn zu gewähren.«
»Das wird er ganz sicher nicht tun.« Susan seufzte und verließ deprimiert die Kanzlei. Wie hatte sie auch nur einen Moment annehmen können, in den letzten Jahren hätte sich etwas geändert? Sie dachte an Daniel Draycott und seinen Vorschlag, Paul eine größere Summe Geld anzubieten, wenn er ihr Jimmy überließ. Susan lachte bitter auf. Nun, das Geld hatte er sich unter den Nagel gerissen, ebenfalls ganz legal, und sie war nicht in der Lage, Paul irgendetwas anderes zu bieten, das ihn dazu veranlassen könnte, Jimmy seiner Mutter zurückzugeben.
Da Doro über ihre Ehe Bescheid wusste, erzählte Susan der Freundin alles über Paul und ihren Sohn. Nur den wahren Grund, warum sie Jimmy damals für einige Monate verlassen hatte, verschwieg sie. Sie blieb bei der Aussage, sie wäre sehr krank gewesen, und nur ein Aufenthalt am Meer, zu dem sie ihren Jungen nicht hatte mitnehmen können, hatte ihren Zustand gebessert.
»Aus diesem Grund kämpfen wir für die Rechte der Frauen!« Doros Augen funkelten, als sie zustimmend nickte. »Die WSPU fordert nicht nur das allgemeine Wahlrecht für alle Frauen über einundzwanzig, sondern kämpft auch für eine vollständige Gleichberechtigung. In zahllosen Fabriken des Landes verrichten Männer und Frauen die gleiche Arbeit, der Lohn für die Frauen liegt jedoch deutlich unter dem der Männer. Wenn eine Frau ein Kind erwartet, verliert sie ihre Anstellung, auch, wenn sie aufgrund der Erkrankung eines Kindes ein paar Tage zu Hause bleiben muss. Dabei sind es oft die Frauen, die ihre Familien ernähren, während ihre Ehemänner das Geld in die Wirtshäuser tragen oder es mit Huren durchbringen.«
Dorothea Hawkins hatte sich
Weitere Kostenlose Bücher