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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Spiel haben. Seit Jahren musste Blessington sich mit diesen militanten und radikalen Frauenrechtlerinnen herumschlagen. Gegen diese Weiber waren die einfachen Diebinnen oder gar Mörderinnen geradezu eine Wohltat. Diese wussten wenigstens, dass sie für ihre Taten ihre gerechten Strafen erhielten, während die Suffragetten fest von ihrer Unschuld überzeugt waren und darauf pochten, als politische Gefangene behandelt zu werden. Diesen stand nämlich eine andere Behandlung zu als einfachen Verbrecherinnen. Politische Gefangene durften ihre eigene Kleidung tragen, Briefe schreiben und erhalten, regelmäßig Besuch empfangen, und ihnen stand natürlich das Recht zu, jederzeit einen Anwalt zu Rate zu ziehen. Blessington hatte jedoch genaue Anweisungen von ganz oben erhalten – die Suffragetten mussten isoliert und auf keine ihrer Forderungen durfte eingegangen werden. Er war eingefleischter Junggeselle, was vorrangig daran lag, dass es bisher keine Frau gegeben hatte, die im Gefängnis leben wollte. Daher zeigte Blessington nicht einen Funken Verständnis für die Forderungen der Frauenrechtlerinnen. Für ihn waren die Suffragetten verrückte und frustrierte Weiber, die nichts anderes zu tun hatten, als ihre Zeit mit gewalttätigen Aufmärschen zu verbringen. Darüber hinaus kosteten sie die Regierung eine Menge Geld – Geld, das an anderer Stelle dringender verwendet werden könnte.
    Diese Susan Hexton war eine von der ganz harten Sorte, das hatte Blessington beim ersten Blick in ihre grauen, eigentlich ganz hübschen Augen bemerkt. Natürlich hatte auch er gelesen, dass die Frau einst eine gefeierte Schauspielerin gewesen war, wenngleich er sie nie auf der Bühne gesehen hatte. Der Posten eines Gefängnisleiters ließ keine Zeit für solche Vergnügungen. Aus diesem Grund würde Blessington ihr gegenüber aber besonders streng sein müssen, denn einer Schauspielerin war alles zuzutrauen.
     
    Nach zwei Tagen Einzelhaft, in der man ihr zweimal täglich ein Tablett mit Essen brachte, das Susan jedoch verweigerte, hörte sie auf dem Gang vor den Zellen eine Frau schreien. Diesem Schrei folgte ein klatschendes Geräusch, offenbar wurde die Frau geschlagen. Diese Geräusche wiederholten sich in etwa stündlichen Abständen. Die Zeit konnte Susan nur schätzen, denn man hatte ihr nicht nur ihre Kleidung, sondern auch all ihre persönlichen Gegenstände, darunter ihre Uhr, abgenommen. Sie musste die Einheitskleidung der Gefangenen tragen – einen dunkelblauen Kittel aus grobem Leinenstoff, rauhe, derbe Wollsocken und Halbschuhe aus hartem Leder. Ihre Bitte nach Lektüre, um sich die Zeit zu vertreiben, wurde ignoriert.
    Als sie hörte, wie ihre Mitgefangenen misshandelt wurden, wusste Susan, dass mit den Zwangsernährungen begonnen worden war. Von Emmeline Pankhurst und ihrer Tochter Sylvia, die dies bereits mehrmals erleben mussten, war sie darüber informiert, was man mit ihr machen würde.
    »Am besten ist es, wenn du dich nicht wehrst«, hatte Sylvia Pankhurst gesagt. »Die Männer sind ohnehin stärker und werden dir den Schlauch in den Magen stoßen – ob du zappelst und wild um dich schlägst oder nicht. Es widerstrebt einem zwar, diese schreckliche Prozedur ohne Widerstand über sich ergehen zu lassen, wir dürfen jedoch nicht riskieren, dass wir dabei ernsthaft verletzt werden.«
    Obwohl Susan in den letzten Jahren mehr erlebt hatte wie andere in ihrem ganzen Leben und auf der
Titanic
dem Tod näher als dem Leben gewesen war, war sie keine mutige Frau. Sie würde jedoch versuchen, tapfer zu sein. Mut und Tapferkeit waren zwei verschiedene Dinge, sie hoffte, das Kommende durchzustehen, ohne Schwäche zu zeigen.
     
    Man holte Susan am Nachmittag des vierten Tages ihres Hungerstreiks. Die Wärter mussten keine Gewalt anwenden, um sie in den Hospitalblock des Gefängnisses zu bringen, denn Susan war so schwach, dass sie ohnehin kaum laufen konnte. Außerdem hatte sie immer noch Kopfschmerzen, und ihr war schwindlig, was von der Gehirnerschütterung und dem Nahrungsmangel herrührte. Man schnallte Susan auf dem Stuhl fest und fixierte ihren Kopf zusätzlich mit einem Lederriemen. Als Susan den dicken Schlauch sah, kroch Angst in ihr empor. Sie versuchte jedoch, keine Panik zu zeigen, und sah ihren Peinigern entschlossen entgegen.
    »Warum wehrt die sich nicht?«, fragte einer der Männer erstaunt, als er Susan den Holzkeil zwischen die Zähne stieß. »Es macht mehr Spaß, wenn die Weiber versuchen, um sich zu

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