Das Lied der Luege
schlagen.«
Den Gefallen werde ich dir nicht tun, dachte Susan und schloss die Augen. Bereitwillig schluckte sie den Schlauch, es war nicht notwendig, ihr die Nase zuzuhalten. Obwohl Susan versuchte, sich zu entspannen und an etwas Schönes zu denken – in ihrem Fall war es die Erinnerung an die Zeit, die sie mit Anabell am Strand in Cornwall verbracht hatte –, waren die Schmerzen kaum auszuhalten. Susan meinte, ihr Oberkörper würde in zwei Teile zerrissen, als der Schlauch in ihren Magen stieß. Der Würgereiz war furchtbar, und gegen den konnte Susan nicht ankämpfen. Sie meinte, ersticken zu müssen, und erinnerte sich an Sylvias Worte, sie müsse langsam und tief durch die Nase atmen.
Sie werden dich hier nicht sterben lassen, sagte sie sich. Obwohl bei der unmenschlichen Prozedur kein Arzt anwesend war, wusste Susan, dass man die Frauen zwar misshandelte, dabei jedoch darauf achtete, keine ernsthaft zu verletzen. Das Letzte, was die Regierung brauchen konnte, waren Märtyrerinnen.
Unendlich lange Zeit schien zu vergehen, dabei waren es kaum fünf Minuten gewesen, bis der Schlauch wieder aus ihrem Körper gezogen wurde. Sofort begann Susan zu würgen und erbrach einen Großteil des Breis, der ihr eben eingeflößt worden war.
»Wir sehen uns dann morgen wieder.« Einer der Männer grinste höhnisch. »Und dann übermorgen und überübermorgen und so weiter, bis du Miststück anfängst, selbst zu essen.« Er gab ihr einen groben Stoß zwischen die Schulterblätter.
Susan bedachte ihn mit einem hasserfüllten Blick. Obwohl ihre Lippen geschwollen und ihre Mundwinkel blutig aufgerissen waren, sagte sie mit kraftvoller Stimme: »In meinem Leben habe ich so einige Rendezvous gehabt, auf unseres freue ich mich jedoch besonders, mein Herr.«
Die Ohrfeige, die er ihr daraufhin verpasste, kam so schnell, dass Susan nicht mehr ausweichen konnte. Ihr Kopf wurde zur Seite gerissen, und sie meinte, ihre Schädeldecke würde explodieren. Vor Schmerz und Wut schossen ihr Tränen in die Augen.
»Das werden Sie bereuen«, stieß sie hervor. »Sie haben kein Recht, mich zu schlagen. Sobald ich hier raus bin, werde ich Sie vor Gericht bringen.«
Ihre Worte lösten bei den Männern Hohngelächter und anzügliche Bemerkungen aus, dann schleppte man sie zurück in ihre Zelle. Als Susan an der Wärterin, die die ganze Zeit stumm an der Tür stehen geblieben war, vorbeikam und ihr Blick den ihren streifte, nickte die Wärterin ihr unbemerkt zu. Für einen Moment erkannte Susan in deren Augen Mitgefühl. Einige Zeit später – Susan lag zusammengekrümmt auf der Matratze, ihr Hals, die Speiseröhre und der Magen brannten wie Feuer – öffnete sich die Zellentür, und die Wärterin, die ihr zugenickt hatte, trat ein. Sie kniete sich neben Susan und holte aus ihrer Rocktasche ein Blatt Papier und einen Bleistift.
»Schnell, nur ein paar Zeilen. Aber beeilen Sie sich, in fünf Minuten werde ich abgelöst. Und kein Wort zu niemandem, wenn wir beide hier lebend rauskommen wollen.«
Susan fragte nicht, warum die Frau dies tat. Hastig kritzelte sie eine Beschreibung der Zwangsernährung und ihrer Misshandlungen auf das Blatt. Die Wärterin stand unter großer Anspannung. Kaum war Susan fertig, faltete sie schnell das Papier zusammen und stopfte es in ihre Rocktasche.
»Danke«, flüsterte Susan.
»Wir Frauen müssen doch zusammenhalten.« Ohne einen weiteren Blick auf Susan verließ sie wieder die Zelle. Nur wenig später hörte Susan draußen die Stimme der Frau, die die nächste Schicht übernahm.
Susan wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte. Ihre Zuversicht kehrte jedoch zurück. Sollte man sie doch in Einzelhaft halten, sie zwangsernähren und schlagen – sie war nicht allein! In ganz England … nein, auf der ganzen Welt kämpften Frauen nicht nur für das Wahlrecht, sondern auch gegen die zahllosen Ungerechtigkeiten, unter denen Frauen zu leiden hatten. Ihr Kampfgeist erwachte erneut. Sie würde nicht aufgeben! Sie würde das hier durchstehen, wie lange es auch dauerte. Sie war stark, stärker, als sie bisher angenommen hatte.
Zuerst brachte die Zeitung
London Viewer
auf der Titelseite einen Bericht über die Umstände, unter denen die Frauen in den Gefängnissen inhaftiert waren.
Und täglich wird diesen Frauen, die nichts weiter getan haben, als friedlich für ihre Rechte einzustehen, ein Schlauch, der so dick ist wie der Daumen eines Bauarbeiters, in den Hals gestoßen und ein übler Brei aus faulen
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